Demokratisierung
Fremde Freunde
Von Peter Hauff
Im vergangenen Jahrzehnt gab es drei Varianten islamistischer Regierungen: die Golfmonarchien, die Mullah-Diktatur im Iran und das aus freien Parlamentswahlen hervorgegangene Kabinett des türkischen Premiers Erdogan. Wie er sein Land führt, daran orientiert sich die Region. Leider zeige er zunehmend autoritäre Neigungen, meinen Experten.
Mit Sorge verfolgte die Staatengemeinschaft zu Redaktionsschluss militärische Bewegungen an der türkisch-syrischen Grenze. Wie selbstbewusst Ankara im Nahen Osten auftritt, überrascht auch langjährige Beobachter. In den Augen von Hugh Pope, Türkei- und Zypern-Experte der International Crisis Group (ICC), steht dahinter die nationalistische Innenpolitik von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.
Um den EU-Beitritt zu ermöglichen, begann Erdogans religiös geprägte Regierungspartei AKP, die historisch mit den ägyptischen Muslimbrüdern verwandt ist, seit 2002 zahlreiche Reformen. Sie schränkten die Macht des Militärs erheblich ein. Dabei entstanden neue gesellschaftliche Freiräume für Minderheiten, zugleich erweiterte Erdogan aber auch seine eigenen Kompetenzen als Regierungschef. Kritiker werfen ihm zunehmend vor, autoritäre Führung sei ihm wichtiger als Demokratie (siehe „Zerissene Nation“ von Maren Zeidler in E+Z/D+C 2011/05, S. 195 ff.).
„Aus meiner Sicht zieht sich die Türkei zurzeit von demokratischen Errungenschaften zurück, die bisher stattfanden“, warnte Pope auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum im Oktober. Gleichzeitig verteidigte der ICC-Sprecher aber die Außenpolitik Erdogans. Es stimme, dass er versuche, westliche Politik besonders im Blick auf die humanitären Folgen israelischer Blockaden im Gazastreifen zu ändern. Das geschehe aber „mit legitimen Mitteln wie dem hart erkämpften Sitz im UN-Sicherheitsrat“.
„Europa muss Türkei den Spiegel vorhalten“
Wie wichtig Erdogan die Bürgerrechte im eigenen Lande nimmt, ist unklar. Ali Ertan Toprak von der Alevitischen Union Europa sagt, er nutze seine Parlamentsmehrheit, um kurdische, christliche, armenische und arabische Bürger einzuschränken. Minderheiten und Frauen, die sich keiner strengen Auslegung des Islams anschlössen, seien „beunruhigter denn je“ über autoritäres Behördenverhalten, das zum Beispiel Totenfeiern für Soldaten in alevitischen Bethäusern verbietet. Laut Toprak werden Schlüsselposten im Staat nach Parteibuch und Religion besetzt. Eine freie Zivilgesellschaft sehe anders aus, meint der in Ankara geborene Deutschkurde: „Europa muss der türkischen Regierung entschlossener den Spiegel vorhalten.“
Doch europäische Chancen wurden verspielt. Für das NATO-Mitglied Türkei hat der Beitritt zur EU keine Priorität mehr. „Wir sind ein Teil Europas; dafür brauchen wir kein Zertifikat“, sagt Safak Göktürk vom Außenministerium in Ankara. Türkischen Wählern komme es auf echte Fortschritte an, etwa bei der Reisefreiheit. EU-Ängste vor illegalen Einwanderern nennt der Diplomat ein „vorgeschobenes Argument“. Erst wenn Europas Visapflicht falle, werde die Türkei ein 2011 beschlossenes EU-Abkommen zur Bekämpfung verbotener Migration unterzeichnen, sagt Göktürk. Die EU beharrt jedoch auf der umgekehrten Reihenfolge.
Laut neuestem Fortschrittsbericht der EU-Kommisson bestehen zudem weiter Sorgen wegen Grund- und Menschenrechten. Folterungen verhafteter Bürger seien in der Türkei zwar seltener geworden, heißt es im EU-Bericht. Nach wie vor decke der türkische Staat jedoch Gewalt, und zu viele Täter kämen straflos davon.
Solche Vorbehalte behindern beide Seiten, meint Murat Erdogan von der Hacettepe-Universität, Ankara. „Ich persönlich fühle mich freier als vor 20, 30 Jahren. Wenn wir immer auf Hindernissen beharren, wird sich die Türkei nicht bewegen. Wir sollten lieber vorwärtsblicken“, sagt Erdogan, der nicht mit seinem Regierungschef verwandt ist. Allein in Deutschland leben rund 3 Millionen Türken – mehr Menschen als in jedem Mitgliedsland der EU. Diese Diaspora sei auch für die Türkei wertvoll, betont der Istanbuler Professor; gerade sie könne demokratischen Forderungen zu Hause Nachdruck geben.
Peter Hauff