Gülen-Bewegung

Machtkämpfe in der Türkei

Die Türkei steckt in einer tiefen Staatskrise. Mitverantwortlich dafür wird Prediger Fethullah Gülen gemacht. Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) analysiert in einer aktuellen Studie, welchen Einfluss die Gülen-Bewegung auf die Politik am Bosporus hat.
Erdogans Gegenspieler Fetullah Gülen lebt seit 1999 im US-amerikanischen Exil. Selahattin Sevi/Handout Zaman Da/picture-alliance Erdogans Gegenspieler Fetullah Gülen lebt seit 1999 im US-amerikanischen Exil.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogans „mächtigster Gegner" (Frankfurter Allgemeine Zeitung) ist gesundheitlich angeschlagen und lebt in den USA. Seit 1999 baut der mittlerweile 72-jährige Gülen von Pennsylvania aus sein weltweites Netzwerk aus Privatschulen, Kulturzentren und Bildungseinrichtungen auf. Die Gülen-Bewegung gilt in allen west­europäischen Ländern als die am schnellsten wachsende türkischstämmige Gemeinschaft. Sie ist laut Seufert in der Türkei wie auch in Westeuropa umstritten. Gülens politische Positionen, dass Islam und Demokratie vereinbar sind, würden im Westen positiv aufgenommen. Seine türkisch-nationale Orientierung rufe hingegen eher Skepsis hervor.

Gülens Hauptziel ist nach Einschätzung des Autors eine muslimische Bildungselite zu schaffen. Der Prediger will seine Anhänger zu religiös gebundenen und gleichzeitig gebildeten, modernen Menschen erziehen. Im Widerspruch dazu steht der Anspruch, man sei keine islamische, sondern eine demokratische Bewegung, weshalb es in Gülens Einrichtungen offiziell keinen Religionsunterricht gibt.

Diese Paradoxie aufzuklären und die Bewegung einzuordnen, fällt vielen Beobachtern wie auch Autor Seufert schwer. Er bezeichnet sie als „hierarchisch strukturierte religiöse Gemeinde mit einer zivilgesellschaftlichen Mission, die auch einen ausgeprägten politischen Gestaltungswillen hat".

Die Anhänger Gülens stammen vor allem aus dem ländlichen Anatolien und bilden dank ökonomischen Erfolgen eine neue Mittelschicht. Sie sehen in ihrem Prediger den Bewahrer religiöser Werte und gemeinschaftlichen Zusammenhalts in den wachsenden Städten. Gülens Gefolgsleute sind in großer Zahl in türkischen Behörden und Justiz vertreten.

Staatsanwälte und Polizisten stürzten Mitte Dezember 2013 die Erdogan-Regierung durch Korruptionsermittlungen in eine Krise. Anfang Januar waren mehrere Minister zurückgetreten; Premierminister Erdogan sah sich gezwungen, Minister zu entlassen und sein gesamtes Kabinett umzubilden. Nach Ansicht der Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) stecken Gülens Gefolgsleute hinter den Ermittlungen, was der Imam abstreitet.

Fakt ist, dass in der Türkei seit einigen Jahren eine regelrechte „Fehde" (Seufert) zwischen der seit 2002 alleinregierenden AKP und der Gülen-Bewegung herrscht. Dabei entstammen beide derselben ideologischen Gesinnung und marschierten lange Seite an Seite. Sie verstehen sich als „Gegengewicht zu einem wie auch immer verstandenen westlichen Einfluss", ist in der SWP-Studie nachzulesen.

Gülen hatte sich zu Zeiten der Militärregierungen mit den Regimen arrangiert, fand Seufert heraus. Ende der 1990er-Jahre, als seine Organisation selbst ins Visier der kemalistischen Eliten gekommen war, stellte sich der Prediger an die Seite Erdogans. Als dieser 2001 die AKP gründete, sei die Unterstützung des Imams von zentraler Bedeutung gewesen. Denn es war seinen Anhängern gelungen, Seilschaften in der Bürokratie zu bilden – besonders in der Polizei und der Justiz, aber auch im Militär.

Dafür, dass es zum Zerwürfnis der beiden Lager kam, sind nach Einschätzung Seuferts einige komplexe Gründe verantwortlich. Die Erdogan-Regierung werfe der Gülen-Bewegung vor, sich der Kontrolle des Staates zu entziehen. Die für den Staatsschutz zuständigen Sondergerichte, denen besonders viele Gülen-Anhänger angehören, würden sich wie ein „Staat im Staate" benehmen. Als weiteren Streitpunkt führt Seufert divergierende politische Vorstellungen an, die sich primär an der Kurdenfrage entzündeten. Erdogan soll geheime Friedensverhandlungen mit einer Kurdenorganisation initiiert haben.

„Dass die Anhängerschaft Gülens auf eine konfrontative Haltung gegenüber der Regierung umschwenkte, kam für Außenstehende vollkommen überraschend", schreibt Seufert. Jede noch so stark in der Bürokratie verankerte Kraft kann ohne den Rückhalt des Militärs der Regierung nicht gefährlich werden, meint er. Man spreche deshalb bereits vom „politischen Selbstmord" der Bewegung.

Seuferts Abschlussthese wurde von den aktuellen politischen Ereignissen überholt. Er meint, dass sich für Gülens Anhänger lediglich dann eine politische Chance eröffne, wenn die Führung der AKP wechsle oder sich die Partei spalte. Nun schwankt Erdogans Macht anlässlich der derzeitigen Krise beträchtlich. Wie der Machtkampf ausgeht ist ungewiss.

Sabine Balk