Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Industriepolitik

Pragmatismus statt Ideologie

Unter dem Titel „Industriepolitik kontrovers diskutiert“ hat Michael Grimm in E+Z/D+C den Stand der Debatte über Industriepolitik anhand einiger neuerer Publikationen angemessen resümiert. Wir knüpfen an diesen Beitrag an und argumentieren, dass es auch für Entwicklungsländer nicht darum gehen kann, ob industriepolitische Maßnahmen notwendig, sondern nur, wie diese zu gestalten sind.
Industriepolitische Maßnahmen sind laut Experten notwendig: Frachter mit Tropenholz auf dem Kongo in der Nähe von Kinshasa in der DR Kongo. Fabian von Poser/Lineair Industriepolitische Maßnahmen sind laut Experten notwendig: Frachter mit Tropenholz auf dem Kongo in der Nähe von Kinshasa in der DR Kongo.

Worum geht es im Kern, wenn von Industriepolitik die Rede ist? Es geht um den Versuch, den wirtschaftlichen Strukturwandel so zu gestalten, dass er eine gesellschaftlich gewünschte Richtung einschlägt und übergeordnete Ziele unterstützend begleitet. Damit liegt es in der Natur der Sache, dass Regierungen als politische Akteure in marktbasierte Prozesse eingreifen, um wirtschaftspolitische Veränderungen zu bewirken. Das bedeutet freilich nicht, die Marktwirtschaft durch Planwirtschaft zu ersetzen.

Industrie- und Entwicklungsländer stehen gleichermaßen vor epochalen Herausforderungen: In der Entwicklungsagenda geht es seit langem darum, Armut und Ungleichheit zu reduzieren sowie einen rasanten Urbanisierungsprozesses zu bewältigen. Gegenwärtig hinzu kommen die Notwendigkeit der Dekarbonisierung von Energie-, Produktions- und Transportsystemen (DDPP 2015) sowie die Reaktion auf disruptive technologische Digitalisierungstrends (OECD 2017). Deren Auswirkungen prägen den Strukturwandel in allen Ländern. Sie betreffen sowohl nationale Volkswirtschaften als auch regionale und globale Wertschöpfungsketten, von denen gerade exportorientierte Entwicklungsländer stark abhängig sind, um wachsen zu können.

Wichtige Fragen dabei sind: Wie lässt sich die Urbanisierung nachhaltig gestalten? Welche Technologien sind von kritischer Bedeutung für die Bekämpfung des Klimawandels? Und wie wirken sich zunehmend digitalisierte Produktionsprozesse auf die Zukunft der Arbeit aus? Und gerade für Länder im Anfangsstadium der Industrialisierung: Wie kann sichergestellt werden, dass die heute eingeschlagenen Pfade zukunftsfähig sind und Fehlinvestitionen zum Beispiel in kohlenstoffbasierte Energie- und Verkehrssysteme vermieden werden?


In Marktprozesse eingreifen

Industriepolitik ist hier gefordert, Lösungen anzubieten. Und so viel steht fest: Es ist sinnvoll, steuernd in Marktprozesse einzugreifen. Wer politische Ziele verfolgt, ist „doomed to choose“ – „verurteilt zu entscheiden“ (Rodrik/Hausmann 2006). Das bedeutet aber gleichzeitig, dass Industriepolitik sich nicht damit begnügen kann, hie und da zeitlich befristete Einzelmaßnahmen zur Korrektur von Marktversagen zu ergreifen. Dies wird in Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre gerne propagiert, da diese davon ausgehen, dass der Markt im Normalfall die bestmögliche Ressourcenallokation gewährleistet.

Komplexe soziale Ziele sind aber nie völlig in Preisen abbildbar; ebenso erfordern gleichzeitig ablaufende technologische Innovationen und institutionelle Veränderungen die Lenkung durch die Politik, insbesondere wenn es um Systemwechsel (wie im Falle der Energiewende) geht. Eine verantwortungsvolle Industriepolitik im Sinne einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft muss selbst die von funktionierenden Märkten gelieferten Resultate auf ihre soziale Verträglichkeit und Zukunftstauglichkeit hinterfragen. Sie muss gegebenenfalls flankierende Anreize und Vorgaben setzen, um zum Beispiel Beschäftigungs-, Klima- oder Verteilungsziele besser und schneller zu erreichen. Damit ist sie letztlich nur normativ begründbar.

Liberale Kreise verbreiten gern den Vorwurf, jedwede Industriepolitik impliziere die Begünstigung und Subventionierung vorab vom Staat ausgewählter Unternehmen (picking winners) und öffne damit Tür und Tor für Lobbying und Subventionsmissbrauch. Dies ist freilich eine ideologische Zuspitzung. Eine rationale Industriepolitik definiert zukunftsträchtige Technologiekorridore (etwa solche mit niedrigen CO2-Emissionen und hoher Ressourceneffizienz), setzt fördernde Anreize und überlässt dabei Investitionsentscheidungen den im Markt konkurrierenden Unternehmen. Zudem gibt es zahlreiche Optionen, industriepolitische Maßnahmen selbst einem Wettbewerb auszusetzen. Solche Ansätze reichen von kompetitiven Bieterverfahren zum Beispiel bei Einspeisungstarifen für erneuerbare Energien bis hin zur Verknüpfung von Technologieförderung mit Clusterkonzepten, die eine Kooperation von Unternehmen, Forschungsinstitutionen und zivilgesellschaftlichen Akteuren zur Voraussetzung haben.


Hohe Implementierungsanforderungen

Der Erfolg derartiger industriepolitischer Maßnahmen stellt freilich hohe Anforderungen an die Implementierung. Dies dürfte vor allem in Ländern mit niedrigem Einkommen problematisch werden. Ausgerechnet die Länder, in denen Märkte am wenigsten funktionieren und die am dringendsten einer entwicklungspolitischen Gestaltung des Strukturwandels bedürfen, verfügen in der Regel nicht über die dafür notwendigen Institutionen (Altenburg/Lütkenhorst 2015).

Die Implikationen, die sich daraus für Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit ableiten, diskutieren wir in dem Buch „Industrial Policy in Developing Countries – Failing Markets, Weak States“. Dort argumentieren wir, dass gerade arme Länder vielfältige Ziele wie Wachstum, Produktivitätssteigerung, Armutsbekämpfung, Schaffung von Arbeitsplätzen, ökologische Nachhaltigkeit et cetera unter hohem Zeit- und Erwartungsdruck der Bevölkerung verfolgen müssen.

Bei realistischer Betrachtung verbietet sich daher eine Strategie des Abwartens in der Hoffnung, dass marktwirtschaftliche Prozesse eine Entwicklung in Gang setzen, die dann zur Reifung der erforderlichen Institutionen führt. Gefragt sind „second best“-Ansätze, die so weit wie möglich auf eingebaute Korrektur- und Anpassungsmechanismen setzen. So hat sich Folgendes als wichtig erwiesen:

  • nationale Transformationsprojekte im Konsens aller gesellschaftlichen Gruppen zu definieren,
  • Tempo und Sequenzierung der Umsetzung an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Unternehmen und Arbeitskräften anzupassen,
  • regelmäßige Erfolgskontrollen und Evaluierungen durchzuführen und
  • politische Lernbereitschaft zu forcieren.

Damit wird zugleich ein Klima der Transparenz geschaffen, das Korruption und politischer Vorteilsnahme und Vereinnahmung (political capture) entgegenwirken könnte.


Analyse vonnöten

Ein Basiselement jeder evidenzbasierten Industriepolitik sind belastbare analytische Instrumente. Diese müssen erlauben, aktuelle Wirtschaftsstrukturen adäquat abzubilden und komparative Wettbewerbsvorteile zu identifizieren. Sie müssen darüber hinaus hinreichende prognostische Aussagekraft besitzen, um eine mittel- bis langfristige Prioritätensetzung zu erleichtern. In welchen Technologiefeldern und Wirtschaftssektoren realistische Wachstumschancen bestehen, ist oft nur schwer abschätzbar und erfordert – besonders in Zeiten grundlegender technologischer Revolutionen, wie wir sie derzeit erleben – eine intelligente Kombination quantitativer und qualitativer Instrumente (Altenburg/Kleinz/Lütkenhorst 2016).

Entwicklungsländer sollten weder eine frühzeitige Deindustrialisierung (wie sie Rodrik 2015 empirisch nachgewiesen hat) akzeptieren, noch können sie sich eine fehlgeleitete Industrialisierung leisten. Knappe Ressourcen müssen so investiert werden, dass produktive und nachhaltige Entwicklungspfade beschritten werden. Dabei besteht stets das Risiko möglicher Fehlentscheidungen, aber das ist kein überzeugendes Argument gegen eine rationale Industriepolitik. Strategielos und passiv auf eine sich rasant verändernde Weltwirtschaft zu reagieren birgt die größten Gefahren.


Tilman Altenburg leitet die Abteilung „Nachhaltige Wirtschafts- und Sozialentwicklung“ des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE).
tilman.altenburg@die-gdi.de

Wilfried Lütkenhorst ist Associate Fellow am DIE und war langjähriger leitender Mitarbeiter der United Nations Industrial Development Organization (UNIDO).
wluetkenhorst@aon.at


Quellen

Altenburg, T., und Lütkenhorst, W., 2015: Industrial policy in developing countries. Failing markets, weak states. Cheltenham/Northampton: Edward Elgar Publishing (soeben auch als Taschenbuch erschienenen).

Altenburg, T., Kleinz, M., und Lütkenhorst, W., 2016: Directing structural change: From tools to policy. Bonn: DIE.
https://www.die-gdi.de/uploads/media/DP_24.2016.pdf

Deep Decarbonization Pathways Project (DDPP), 2015: Pathways to deep decarbonization 2015 report – executive summary. Paris: SDSN-IDDRI.
http://deepdecarbonization.org/wp-content/uploads/2015/06/DDPP_EXESUM.pdf

OECD, 2017: The next production revolution. Implications for government and business. Paris.

Rodrik, D., 2015: Premature deindustrialization. Princeton: Institute for Advanced Study.
https://www.sss.ias.edu/files/papers/econpaper107.pdf

Rodrik, D., Hausmann R., 2006 : Doomed to choose: Industrial policy as predicament. Cambridge.
https://drodrik.scholar.harvard.edu/files/dani-rodrik/files/doomed-to-choose.pdf