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Lateinamerika

Das düstere Erbe der Diktatur

Im gesamten 20. Jahrhundert hatte das Militär in fast allen Ländern Lateinamerikas großes politisches Gewicht. In Argentinien herrschte die Militärdiktatur besonders brutal. Deshalb ist auch nach mehr als drei Jahrzehnten Demokratie das Verhältnis zwischen Militär und Zivilgesellschaft angespannt.
Die „Mütter des Plaza de Mayo“ protestierten gegen eine Amnestie der Verbrechen während der Militärdiktatur in Argentinien. Ron Giling/Lineair Die „Mütter des Plaza de Mayo“ protestierten gegen eine Amnestie der Verbrechen während der Militärdiktatur in Argentinien.

Ein Bericht des Meinungsumfrage-Instituts Latinobarómetro von 2017 verdeutlicht die Polarisierung der argentinischen Gesellschaft gegenüber den Streitkräften. Die Studie zeigt, dass nur 50 Prozent der Bevölkerung dem Militär vertrauen. Das bedeutet, dass diese Institution nicht nur als Schutzmacht, sondern auch als Bedrohung wahrgenommen wird.

Nach dem Zusammenbruch der letzten Militärdiktatur in Argentinien 1983 standen die Übergangsregierungen vor einem grundlegenden Problem: Sie mussten entscheiden, wie sie mit den Streitkräften umgehen sollten. Laut Paula Canelo, Soziologie-Professorin an der Universität von Buenos Aires, hatten die Politiker die „militärische Frage“ zu lösen, unter anderem die Folgen der erst kurz zurückliegenden Militärdiktatur. Canelo sagt, dass „die Streitkräfte historisch eine klare Tendenz gezeigt hatten, ihre Funktionen, Doktrin und Missionen eigenmächtig zu definieren“. Dabei waren diese Missionen oft gegen eine innere und nicht gegen eine äußere Bedrohung gerichtet. Darüber hinaus, so die Wissenschaftlerin, sei von „zentraler Bedeutung, dass sich die Streitkräfte absolut kompromittiert haben, indem sie schwere Verbrechen anordneten. Deswegen werden sie von einem Teil der Zivilgesellschaft völlig abgelehnt.“ Diese kollektive kriminelle Erfahrung und die Niederlage im Krieg um die Malwinen (Falklandinseln) stürzten die Streitkräfte in eine tiefe Krise.


Neue soziale Bewegungen

In Argentinien war sofort nach Ende der Diktatur klar, dass jeglicher Versuch, die „militärische Frage“ anzugehen, die Menschenrechte als zentrales Element beinhaltete. Dies war dem Druck der zahlreichen Menschenrechtsgruppen zu verdanken, mit den „Müttern des Plaza de Mayo“ an der Spitze. Nach Einschätzung von Canelo wollte Präsident Raúl Alfonsín (1983 – 1989) einen kleinen Kreis von Schuldigen beispielhaft bestraft sehen und die übrigen militärischen Institutionen freisprechen. Diese Politik ist unter dem Namen „Juicio a las Juntas“ (Urteil für die Junta) bekannt.

Damit dieser kleine Kreis von Schuldigen nicht irgendwann erweitert würde, sorgte Alfonsín 1986 für die Verabschiedung des sogenannten Schlusspunktgesetzes (Ley de Punto Final). Dennoch ließen die Gerichte immer wieder neue Anklagen zu, weswegen das Militär mehrfach rebellierte. Canelo zufolge richteten sich diese Aufstände „gegen die ,Progressiven‘ in Militär und Regierung, die nicht imstande seien, eine Generalamnestie durchzusetzen“. Unter diesem Druck wurde 1987 das sogenannte „Gesetz über die Gehorsamspflicht“ (Ley de Obediencia Debida) erlassen. Ihm zufolge war das Handeln aller niederen Ränge, die keine „Exzesse“ der Repression begangen hatten, nicht strafbar.

Das Militär hatte damit sein Ziel erreicht. Aber die Mehrheit der Argentinier sah das Versprechen gebrochen, dass Recht und Gerechtigkeit walten würden. Massen an Menschen versammelten sich um die Kasernen und protestierten gegen das Militär, um die junge Demokratie zu verteidigen.

Die Regierung von Carlos Menem (1989 – 1999) wollte die Vergangenheit der Streitkräfte ruhen lassen. Sie erließ 1991 sogar eine Amnestie für die Junta-Diktatoren, woraufhin eine Zeit der „beträchtlichen Harmonie“ zwischen Regierung und Armee folgte. Die Amnestie stärkte laut Soziologin Canelo „die neuen Spitzen der Streitkräfte“. Die Strafprozesse lagen auf Eis, der Staat beschäftigte sich nicht mehr mit Menschenrechten.

Die Regierungspolitik versöhnte die Streitkräfte aber nicht mit der Gesellschaft. Im Gegenteil, sie erzeugte das Aufkommen neuer sozialer Bewegungen. So organisierten sich etwa die Kinder der Verschwundenen in dem Verband HIJOS („Hijos e Hijas por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio” – Söhne und Töchter für Identität und Gerechtigkeit gegen Vergessen und Schweigen). Sie prangerten Militärangehörige, die an den Verbrechen der Diktatur beteiligt gewesen waren, öffentlich an. Diese Sichtbarmachung schuf eine öffentliche Form der Gerechtigkeit, nachdem die Justiz das nicht hatte durchsetzen können.


Wichtiger Alliierter der USA

Die militärische Niederlage im Krieg um die Malwinen (1982) und die hohe Staatsverschuldung haben die nachfolgende Zeit ebenfalls geprägt. Weltbank und Internationaler Währungsfonds verpflichteten das Land zu schmerzhaften Strukturanpassungen, bei denen die Staatsausgaben gekürzt, die Wirtschaft dereguliert und dem Weltmarkt geöffnet wurde.

Gleichzeitig verschoben sich die militärischen Allianzen des Landes. Präsident Menem verabschiedete sich von den blockfreien Staaten, verbündete sich mit den USA und schloss sich 1990/91 der internationalen Allianz im Golfkrieg an.

Argentinien schickte Blauhelm-Soldaten in weit entfernte Länder wie Zypern, Kuwait, Kosovo und Libyen. Angesichts dieser neuen internationalen Rolle der Streitkräfte wurde Argentinien einer der wichtigsten Alliierten der USA außerhalb der NATO.

Derweil wurde das Verteidigungsbudget gekürzt. Es ist bis heute recht klein. Ein neues Verteidigungsgesetz wurde erlassen, das Verteidigung nach außen und innere Sicherheit strikt trennt. Die Streitkräfte sollten ausschließlich der nationalen Verteidigung dienen und nur gegen militärische und externe Bedrohungen eingesetzt werden dürfen.

Diese Abgrenzung ist wichtig, wird aber leider nicht konsequent beibehalten. Laut Christian Castillo, Soziologie-Professor an der Universität von La Plata, haben „zwei Institutionen, die Gendarmerie (Gendarmería) und die Präfektur (Prefectura), alle notwendigen Mittel erhalten, um soziale Konflikte gewaltsam zu unterdrücken“. Grundsätzlich ist also quasi-militärisches Eingreifen bei Themen der inneren Sicherheit wie Drogenhandel, Terrorismus, organisiertes Verbrechen, Waffenschmuggel und ethnische Konflikte weiterhin möglich. Angesichts der traumatisierenden Vergangenheit überrascht es kaum, dass viele Argentinier dem gewandelten Militär bis heute nicht trauen.


Weitere Anklagen

Nach der verheerenden argentinischen Finanzkrise 2001/02 wurde der Wehretat weiter gekürzt. Menschenrechtsgruppen sorgten dafür, dass Prozesse wegen Verbrechen während der letzten Diktatur wieder aufgenommen wurden. Von 2007 bis 2016 liefen gegen rund 1000 Angehörige des Militärs und der Sicherheitskräfte Verfahren, bei denen rund 300 Schuldsprüche gefällt wurden. Die Politik diente unter anderem dazu, „die verlorene Legitimität des Staates wiederzugewinnen“, meint die Soziologin Canelo.

Die Regierungen von Néstor Kirchner (2003 bis 2007) und Cristina Kirchner (2007 – 2015) waren ambivalent im Bezug auf das Militär. 2004 forderte Néstor Kirchner in einer symbolträchtigen Zeremonie, alle Fotos ehemaliger Diktatoren und Junta-Generälen von den Wänden des Militärkollegs zu entfernen. Andererseits baute Kirchner einen illegalen Apparat der Spionage und Nachrichtendienste auf.

Seit dem Antritt von Präsident Mauricio Macri 2015 bemüht sich die neue Regierung wieder um die Straffreiheit der verurteilten Militärs. Auch sollen polizeiliche Untersuchungen gegen deren zivile Helfer beendet werden. Relevant ist vielleicht, dass Macris Familie enorm von der Diktatur profitiert hat. Ihre Unternehmensgruppe wuchs in jenen Jahren von sieben auf 47 Unternehmen an. Die Junta übernahm sogar einen Teil ihrer Schulden.

Im November 2017 verschwand das argentinische U-Boot ARA San Juan mit 44 Mann an Bord unter bisher ungeklärten Umständen vor der argentinischen Küste im Südatlantik. Seither fordern manche die Erhöhung des Verteidigungsetats. Doch das scheint die Regierung nicht zu interessieren.

Während der vergangenen dreieinhalb Jahrzehnte hat die argentinische Politik auf unterschiedliche Weise versucht, eine Antwort auf die drängende – und noch nicht gelöste – Frage zu finden, welche Rolle dem Militär zukommen soll. Eine echte Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur steht weiterhin aus.


Sebastián Vargas ist Journalist aus Buenos Aires und lebt in München.
zevu.vargas@gmail.com