Lateinamerika

Indigene Politik in Ecuador und Bolivien

Unter den linksgerichteten Regierungen von Rafael Correa und Evo Morales verabschiedeten Ecuador und Bolivien 2008 und 2009 neue Verfassungen. Die Identitätspolitik der beiden Präsidenten hat in beiden Ländern einen starken Fokus auf die indigene Kultur gelegt und zu Veränderungen geführt, die bis heute nachwirken.
Bolivianische Indigene nehmen 2019 an einer Kundgebung für Präsident Evo Morales teil. picture-alliance/dpa/Gaston Brito Bolivianische Indigene nehmen 2019 an einer Kundgebung für Präsident Evo Morales teil.

Anfang des Jahrhunderts ging ein politischer Linksruck durch Lateinamerika: Nach Jahrzehnten des Neoliberalismus überzog eine Protestwelle den Kontinent. Sukzessive eroberten eher linksgerichtete Kandidat*innen die Präsidentschaftsposten mehrerer Länder. Den Anfang machte 1998 Hugo Chávez in Venezuela, es folgten Chile, Argentinien, Brasilien, Bolivien, Uruguay, Ecuador, Nicaragua, Honduras, Guatemala und El Salvador – wenn auch mit sehr unterschiedlichen politischen Programmen von moderat sozialdemokratisch bis populistisch-nationalistisch.

Insbesondere der Wahlerfolg des Indigenen Evo Morales in Bolivien machte international Schlagzeilen. Sowohl Morales als auch Präsident Rafael Correa in Ecuador praktizierten eine Identitätspolitik, die eine starke Rückbesinnung auf die indigene Kultur beinhaltete. Ihre Politik hat in beiden Ländern weitreichenden positiven Wandel bewirkt.

Der Linksruck in Lateinamerika war eine Reaktion auf die unerfüllten Versprechen des Neoliberalismus, der bis dahin in fast allen Ländern der Region rigoros umgesetzt wurde. Ende des 20. Jahrhunderts war es der neoliberalen Politik zwar gelungen, die Finanzen der Region durch äußerst unbeliebte Schockstrategien auszugleichen, sie hatte jedoch weder Arbeitsplätze noch soziale Gerechtigkeit geschaffen. Die soziale Ungleichheit hatte sogar stark zugenommen: 1999 schätzte die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik, dass 35 Prozent der lateinamerikanischen Haushalte in Armut und 14 Prozent in extremer Armut lebten. Das wiederum bedeutete in absoluten Zahlen: 211 Millionen Arme und 89 Millionen Bedürftige.

Ein Großteil der Bevölkerung fühlte sich zudem von den politischen Parteien nicht mehr repräsentiert. Sie schienen nur noch um die Macht zu wetteifern, um ihren zunehmend geschlossenen und oligarchischen Eliten Vorteile sichern zu können. Kurz: Das Parteiensystem funktionierte nicht mehr. Die Distanz zwischen Politik und Zivilgesellschaft war der schwächste Punkt des Neoliberalismus.

Als die sozialen Proteste ausbrachen, antworteten die meisten Regierungen zunächst mit Repression. Doch die Bewegung war stark: Im Jahr 2001 war die Zahl der Proteste in 18 lateinamerikanischen Ländern um 64 Prozent höher als im Jahr zuvor. In einigen Ländern konnten Präsidenten ihre Amtszeit deshalb nicht zu Ende führen. So trat der bolivianische Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada im Oktober 2003 nach heftigen Protesten von seinem Amt zurück. 67 Tote und 417 Verletzte waren diesem Schritt vorausgegangen. In Ecuador wurde der pensionierte Oberst Lucio Gutiérrez im April 2005 durch einen zivilen Staatsstreich, die sogenannten „Rebellion der Gesetzlosen“, aus dem Amt gedrängt.

Die Versprechen des Nationalismus

Von den neuen Regierungen versprachen sich viele Bürger*innen eine Erneuerung der politischen Eliten. Der Staat sollte wieder die Wirtschaft regulieren. Während sich der Neoliberalismus auf die Privatwirtschaft gestützt hatte, setzte man nun auf eine führende Rolle der Regierung.

Auch die natürlichen Ressourcen sollten nicht mehr in den Händen der Privatwirtschaft sein, sondern wieder an den Staat übergehen. In Ecuador enteignete Correa den Öl- und Bergbausektor. In Bolivien verstaatlichte Morales die Gasgewinnung, Telekommunikation, die Eisenbahn und Mineralien verarbeitende Unternehmen.

Beide bedienten sich dabei einer starken patriotischen Rhetorik. Gerade linke Parteien nutzen in Lateinamerika häufig Nationalismus als Argument, um natürliche Ressourcen zu verstaatlichen, und sie begründen ihre Ablehnung privaten Unternehmertums mit Antiimperialismus. Hinzu kamen Ideen und Argumente des Dekolonialismus-Diskurses: Demzufolge hat der Kolonialismus westliche Wissensformen den lateinamerikanischen Kulturen aufgestülpt, obwohl diese eine eigene Art haben, Wissen zu generieren und weiterzugeben.

Identitätspolitik konnte sich in Bolivien und Ecuador mit ihrem großen indigenen Bevölkerungsanteil besonders gut durchsetzen. Die Rückbesinnung auf die indigene Kultur brachte Morales und Correa an die Macht – wobei die beiden Politiker das Thema verschieden stark bespielten und es unterschiedlich großen Einfluss hatte.

Unterschiede in Bolivien und Ecuador

Correa war ein Caudillo – eine charismatische Führungsperson – ohne Parteistruktur, ein Außenseiter ohne politische Vergangenheit. Er stammt aus der wohlhabenden Mittelschicht Guayaquils, einer der größten Städte Ecuadors, hat eine beachtliche akademische Laufbahn absolviert und einen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften der University of Illinois. Zu Themen wie sexueller Identität und Drogenlegalisierung vertrat er eher konservative Ansichten.

Evo Morales hingegen kommt aus einer armen, indigenen Familie. Um zu überleben, musste er in seiner Jugend als Trompeter Geld verdienen. Wie viele verließ er den Westen Boliviens und zog in die Region Chapare, um Koka anzubauen. Er hat keine formale Ausbildung, sondern besuchte nur die sechsjährige Grundschule. In Chapare wurde er zum Politiker und als Direktkandidat ins Parlament gewählt.

Verfassungsreformen

Beide Präsidenten stießen in ihren jeweiligen Ländern einen Verfassungsreformprozess an. In Bolivien wurde die neue Verfassung im Januar 2009 in einem Referendum angenommen und anschließend von Morales verkündet. In der Präambel heißt es, dass „wir den kolonialen, republikanischen und neoliberalen Staat der Vergangenheit angehören lassen. Wir nehmen die historische Herausforderung an, gemeinsam einen sozialen, plurinationalen Rechts- und Einheitsstaat aufzubauen.“ Damit wurde eine neue Etappe eingeläutet – nicht mehr auf Grundlage einer Republik, sondern aufbauend auf indigenen Prinzipien und Gemeinschaftsrecht.

Correa verkündete Ecuadors neue Verfassung ein Jahr zuvor. Diese besagt: „Wir erkennen unsere jahrtausendealten Wurzeln an, die von Frauen und Männern verschiedener Völker geschmiedet wurden“, und feiern „die Natur, Pacha Mama, von der wir ein Teil sind und die für unsere Existenz unerlässlich ist.“ Weiter heißt es, dass die Menschen beschlossen haben, „eine neue Form des Zusammenlebens aufzubauen […] auf der Grundlage des guten Lebens, des sumak kawsay.“ Der Bezug zu den indigenen Wurzeln ist hier zwar ebenfalls deutlich, greift aber nicht so tief wie in Bolivien: Die Verfassung hält an der Republik als Regierungsform fest und stellt die indigene Weltanschauung nicht in den Mittelpunkt des neuen Staates.

Mit den neuen Regierungsoberhäuptern änderte sich in beiden Ländern auch die Zusammensetzung der poli­tischen Eliten. Zu Correa gesellten sich orthodoxe Maoist*innen und ehemalige Anhänger*innen der rechten Christlich-Sozialen Partei sowie der Befreiungstheologie, aber auch Umweltschützer*innen, Menschenrechtsaktivist*innen, Indigen­ist*innen und linke Akademiker*innen.

„Pacto de Unidad“

In Bolivien wurden die traditionellen Eliten – auch die der Linken – durch die neue politische Führung gänzlich ersetzt. Großen inhaltlichen Einfluss hatte nun der „Pacto de Unidad“ (Pakt der Einheit), in dem Indigenen-Organisationen und Landarbeiter*innen-Gewerkschaften aus dem Hochland und dem Tiefland zusammenkamen. Die Partei von Morales, das Movimiento al Socialismo (MAS), ist ein Zusammenschluss sozialer Bewegungen, wobei die politische Entscheidungsgewalt bei den indigenen Bauernorganisationen des Hochlandes liegt. Obwohl Morales also eine hohe Entscheidungsmacht hatte, war er verschiedenen, vor allem indigenen Organisationen und sozialen Bewegungen gegenüber rechenschaftspflichtig.

Der politische Wandel in Bolivien ließ sich nicht einfach als ein Wechsel von rechter zu linker Politik erklären, sondern war deutlich komplexer und in erster Linie ein Übergang zu indigener Identitätspolitik. Die MAS-Partei von Evo Morales traf nicht nur typisch linke Entscheidungen wie die Verstaatlichung von Unternehmen. Sie stellte auch die politische, wirtschaftliche und kulturelle Weltanschauung der Indigenen in den Mittelpunkt ihrer Politik. Dies war in Ecuador weniger stark ausgeprägt, wo zwar ebenfalls mehrere Unternehmen verstaatlicht wurden, die indigenen Organisationen sich aber von der Regierung Correa distanziert und ihr gegenüber eine kritische Haltung eingenommen haben.

Beide Regierungen haben ihr Land langfristig geprägt. Kürzlich wurde in Ecuador gewählt. Die linke Kandidatin der Partei von Correa verlor in der Stichwahl nur knapp gegen den konservativen Herausforderer. In Bolivien gewann die MAS erneut die Präsidentschaftswahlen 2020, was es Morales ermöglichte, aus dem Exil zurückzukehren, wohin er als Reaktion auf die Unruhen – ausgelöst durch Wahlbetrugsvorwürfe gegen ihn – nach den Wahlen 2019 geflohen war.

Franz Flores Castro ist Politikwissenschaftler, Professor und Forscher an der Universität San Francisco Xavier in Sucre, Bolivien.
flores.franz@usfx.bo