Volkswirtschaftslehre
Debatte über Pro-poor Growth
Von den verschiedenen Wachstumsansätzen, die in den vergangenen Jahrzehnten diskutiert wurden, scheint „Pro-poor Growth“ am meisten zu versprechen. Der Begriff spricht zwei dringende Probleme an: die stagnierende Wirtschaft und die hohen Armutsraten vieler Entwicklungsländer.
Es gibt zwei Definitionen für Pro-poor Growth, eine absolute und eine relative. Die absolute orientiert sich an der Einkommenssteigerung armer Menschen, die sowohl den Anteil der Menschen, die in Armut leben, als auch den Grad ihrer Armut reduziert. Diese Definition entspricht dem ersten Millennium Development Goal (MDG1), von 1990 bis 2015 den Anteil der Weltbevölkerung, der pro Tag von weniger als 1,25 Dollar lebt, zu halbieren.
Die relative Definition vergleicht dagegen die Einkommensveränderungen der Armen mit denen anderer Einkommensgruppen. Wachstum gilt dann als armenfreundlich, wenn das Einkommen der Armen schneller steigt als das Durchschnittseinkommen innerhalb eines Landes.
Die Weltbank und verschiedene bilaterale Geber griffen den Begriff Pro-poor Growth früh auf. Die Ergebnisse ihres gemeinsamen Forschungsprojekts „Operationalising Pro-poor Growth“ (OPPG) wurden in zwei Büchern (Besley and Cord, 2007; Grimm et al. 2007) und einem zusammenfassenden Report (AFD et al., 2005) veröffentlicht.
Die von Besley und Cord zusammengestellten Fallbeispiele bestätigen, dass schnelles Wirtschaftswachstum das Durchschnittseinkommen der armen Bevölkerung in acht Ländern gesteigert hat. Allerdings stieg gleichzeitig die Einkommensungleichheit in fünf der Länder. Das Einkommen der Wohlhabenden stieg also schneller als das der Armen.
Das Buch von Grimm et al. erfasst die Entwicklung in einer größeren Zahl von Ländern mit teils enttäuschenden Resultaten bei Wachstum und Armutsreduzierung. Den Autoren zufolge ist es für Länder mit großer sozialer Ungleichheit, wie etwa Bolivien, schwer, breitenwirksames Wachstum zu erzeugen. Sie müssen Ursachen der Ungleichheit, wie etwa ethnische Diskriminierung, direkt angehen.
Das OPPG und verwandte Forschungsvorhaben waren primär auf Methoden zur Messung von Pro-poor Growth ausgerichtet und halfen, den Zusammenhang von Wachstum, Ungleichheit und Armut zu verdeutlichen. Darüber hinaus zeigt diese Literatur aber auch, wie sich Wirtschaftssektoren fördern lassen, die für Arme besonders wichtig sind. Der OPPG-Report hebt verschiedene Interventionen hervor, wie etwa Kleinbauern beim Risikomanagement zu unterstützen oder ihren Zugang zu moderner Technik zu verbessern. Umstritten bleibt indessen, in welchem Maße Regierungen Ungleichheit direkt durch Umverteilung bekämpfen sollten.
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„Inclusive Growth“ ist ein weiteres wichtiges Schlagwort. Es wurde in den letzten Jahren gängig und unterscheidet sich in Nuancen von Pro-poor Growth. Die Debatte um Pro-poor Growth kreist um vergangene Entwicklungsprozesse, während „integratives Wachstum“ auf künftiges Handeln abstellt. Die Perspektive ist langfristig; die Aufmerksamkeit gilt Niveau und Struktur des Wachstums (Ianchovichina und Lundström, 2009).
Die zwei wichtigsten Lehren sind, dass das Wachstum hoch genug sein muss, um Armut zu senken, und dass es so breit angelegt sein muss, dass alle Erwerbstätigen profitieren – Arme ebenso wie Mittelschichten. Es geht darum, wirtschaftlichen, vor allem strukturellen, Wandel auszulösen. Denn bisher hat noch kein Land ohne grundlegende Transformation Einkommen merklich gesteigert und Armut nennenswert reduziert.
Produktive Beschäftigung (inklusive selbstständiger Erwerbstätigkeit) gilt als Schlüsselfaktor für inclusive Growth. Mehr Beschäftigung vermehrt die Chancen zur Einkommenserzielung, höhere Produktivität führt zu höheren Löhnen und Renditen. Das Ziel ist ein selbsttragender Aufschwung, der Wohlstand bringt.
Allerdings ändern sich ökonomische Transformationsmuster. Früher setzte Industrialisierung meist in Niedriglohnbranchen wie der Textilherstellung ein. Neuerdings werden solche Optionen allerdings knapp (Rodrick, 2015).
Nachhaltigkeit ist wichtig und wird in der Debatte um inclusive Growth beachtet. Sie hat ökologische, ökonomische und soziale Dimensionen (World Bank, 2012). Es ist besonders wichtig, dass Wachstum nicht zu Lasten der Umwelt geschieht, sondern mit effizienter Ressourcennutzung einhergeht, die Umwelt nur minimal belastet und Katastrophenrisiken nicht erhöht.
Vor kurzem erklärte die Weltbank „shared Prosperity“ zum Ziel. Das ist noch ehrgeiziger als „inclusive Growth“. Der neue Begriff deckt weitere Themenfelder ab, aber im Kern geht es weiterhin um das doppelte Ziel von Wachstum und Armutsreduzierung.
Das spiegelt auch der Entwurf für die Sustainable Development Goals (SDGs) wider, den die UN im September als Nachfolgeagenda für die MDGs beschließen dürften. Die ersten zwei Ziele behandeln explizit die Bekämpfung von Armut und die Förderung von wirtschaftlichem Wachstum innerhalb ökologischer Grenzen. Das zehnte Ziel ist die Bekämpfung von Ungleichheit. Die SDGs könnten somit das Interesse an Pro-poor Growth neu wecken und mit Maßnahmen gegen Ungleichheit verbinden.
Wie einflussreich die SDGs sein werden, bleibt aber abzuwarten. Experten kritisieren, dass 17 SDGs mit 169 Indikatoren eine aufgeblähte Agenda bildeten, und fürchten, dass so Armutsbekämpfung und Wachstum möglicherweise nicht genügende Aufmerksamkeit bekommen (Klasen, 2015).
Kacana Sipangule is a PhD candidate in economics at the University of Göttingen and a Research Fellow at the Kiel Institute for World Economy as well as at the Poverty Reduction, Equity and Growth Network (PEGNet).
kacana.sipangule@ifw-kiel.de
Rainer Thiele is head of the research area “Poverty Reduction, Equity and Development” at the Kiel Institute for the World Economy (IfW) and adjunct professor at the University of Kiel.
rainer.thiele@ifw-kiel.de
Manfred Wiebelt is a senior research fellow at the Kiel Institute for the World Economy (IfW), an adjunct professor at the University of Kiel and director of PEGNet.
manfred.wiebelt@ifw-kiel.de