Entwicklung und
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Gewaltenteilung

Zweideutige Ambitionen

Pakistans Supreme Court (Oberster Gerichtshof) ist in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend aktiv geworden. Die Judikative muss Grundrechte schützen, aber zugleich die Exekutive und Legislative ihre Arbeit machen lassen. Weil Pakistans oberste Richter sich zu sehr in Verwaltung und Gesetzgebung einmischen, stehen sie der Demokratisierung im Weg.
Rechtsanwälte feiern im März 2009 die Wiedereinsetzung von Iftikhar Chaudhry als obersten Richter. Olivier Matthys/picture-alliance/dpa Rechtsanwälte feiern im März 2009 die Wiedereinsetzung von Iftikhar Chaudhry als obersten Richter.

Da die Judikative verschiedene Militärcoups unterstützte, ist es unmöglich, Pakistans politische Geschichte und seine Entwicklung als Nation von der Rolle der rechtsprechenden Gewalt zu trennen. Seit den 1950er Jahren schwankte Pakistan zwischen demokratischer und militärischer Herrschaft. Es wurde von drei Militärdiktatoren regiert: General Ayub Khan (1958–1968), General Zia-ul-Haq (1977–1988) und General Parvez Musharraf (1999–2008).

Jedes Mal stützten sich die Militärmachthaber auf den Supreme Court (SC), die höchste juristische Instanz des Landes. Es war seine Aufgabe, die verfassungswidrige Machtübernahme zu rechtfertigen oder den Putschisten konstitutionellen Schutz zu gewähren. Er legitimierte die Aufhebung der Verfassung (im Fall von Ayub Khan) oder gestand den Putschisten die Macht zu, die Verfassung außer Kraft zu setzen oder zu ändern (im Fall von Zia und Musharraf). Iftikhar Chaudhry, derzeit Pakistans oberster Richter, gehörte zu den SC-Richtern, die den Putsch Musharrafs Putsch im Jahr 2000 für verfassungskonform erklärten. Die Judikative ist für solche Entgleisungen kritisiert worden. Allerdings waren viele gewählte Politiker auch keine demokratischen Vorbilder. Das über Jahrzehnte andauernde demokratische Zwischenspiel vor dem Musharraf-Coup war von schlechter Amtsführung gekennzeichnet– mit Korruption und chronischer Gesetzlosigkeit. Das gilt gleichermaßen für die zivile Regierung unter Präsident Asif Ali Zardari, der 2008 Musharraf an der Staatsspitze ablöste. Zuweilen scheinen Medien und Interessensgruppen diese Probleme zu übertreiben, aber es gibt keinen Zweifel daran, dass schlechte Regierungsführung die Demokratisierung Pakistans belastet.

 

Einmischungen in die Regierungsführung

2005 wurde Chaudhry Chief Justice und änderte seine Haltung zum Musharraf-Regime. Unter ihm begann der Supreme Court direkt in Regierungshandeln einzugreifen. Menschenrechtsorganisationen, zivilgesellschaftliche Gruppen, die Medien und die juristische Fachwelt begrüßten diesen aktiven Kurs. Unter der Leitung Chaudhrys richtete der SC eine Menschenrechtseinheit ein und nahm deutlich mehr Verfahren auf, die in seine „ursprüngliche Zuständigkeit" fallen. Dabei geht es um die richterliche Durchsetzung der verfassungsgemäßen Grundrechte. Fachleute sprechen auch von „public interest litigation" (PIL - Rechtsprechung in öffentlichem Interesse).

Im Kern geht es bei PIL darum, armen und benachteiligten Klägern direkten Zugang zur Justiz zu gewährleisten. Dafür kann das oberste Gericht aus eigenem Antrieb Ermittlungen aufnehmen und Verfahrensregeln lockern.

Der Supreme Court nahm erstmals in den späten 1980er Jahren PIL-Verfahren auf. Er nutzte PIL als Instrument, um seine Legitimation nach der Militärherrschaft wiederherzustellen und neues Vertrauen zu gewinnen, indem er Recht für Normalbürger sprach. Ähnlich hat auch Indiens Supreme Court in den frühen 1980er Jahren PIL genutzt, um sein Image aufzubessern, das während Indira Gandhis Notstandsregierung Mitte der 1970er Jahre gelitten hatte.

In Pakistan verringerten sich die PIL-Aktivitäten in den ersten sechs Jahren unter Musharraf merklich. Aber nachdem Chaudhry zum Chief Justice wurde, startete er PIL wieder. Er agierte großzügig nach dem „suo motu"-Prinzip, das Richtern erlaubt, aus eigenem Ermessen aktiv zu werden, und ermunterte andere Richter, das auch zu tun. Der SC nahm also Verfahren auf, ohne dass er von einer externen Partei dazu aufgefordert wurde. Der SC ermächtigte sich also selbst, Fälle auszusuchen, Schwerpunkte zu setzen und juristisch einzugreifen, wie es ihm gefiel.

Ab 2007 begann Musharraf den SC als Bedrohung seines Regimes zu sehen. Der Autokrat wollte Chaudhry von seinem Posten entfernen. Sein erster Versuch scheiterte im März 2007 aufgrund massenhafter Proteste von Juristen und politischen Parteien, die "Lawyers Movement" genannt wurde. Sein zweiter Versuch war im November 2007 erfolgreicher, aber er konnte die Protestbewegung nicht ruhig halten. Chaudhry wurde 2009 wieder in sein Amt eingesetzt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Musharraf die Macht schon an eine gewählte Zivilregierung unter Zardari abgegeben.

 

Gewachsenes ­Selbstbewusstsein

Seither ist das oberste Gericht immer aktiver geworden. Es greift nicht nur in Angelegenheiten ein, die die Menschenrechte, die öffentliche Grundordnung und Regierungsführung betreffen, sondern es mischt sich unmittelbar in die Politik ein. Seine Urteile reichen weiter als je zuvor. Dieser Trend beeinträchtigt den Demokratisierungsprozess und die Gesetzgebung. Der SC muss zwar die Grundrechte schützen, er muss aber auch Exekutive und Legislative ihre Arbeit machen lassen.

Der oberste Richter und andere Richter des Supreme Courts meinen, sie seien die wahren Hüter von Verfassung und Demokratie in Pakistan. Dementsprechend sollen sich alle anderen Institutionen praktisch ohne Einschränkung ihrer Kontrolle und ihrem Suo-motu-Anspruch unterordnen. Vielleicht hat die beispiellose Unterstützung der Lawyers Movement dieses Selbstbewusstsein genährt.

Wie dem auch sei, heute wenden sich die meisten Rechtsanwälte, Politiker und Intellektuellen gegen die Maßlosigkeit des SC. Einige hochpolitische Entscheidungen der vergangenen vier Jahre zeigen den beunruhigenden Trend auf, dass Richter über ihre normale Zuständigkeit hinaus Urteile fällen. Grob vereinfacht gibt es drei Kategorien solcher Fälle. Der Supreme Court hat:

  • die rechtmäßigen Befugnisse anderer staatlicher Gewalten eingeschränkt und sich selbst von konstitutionellen Kontrollen ausgenommen,
  • gewählte Politiker mit dubiosen Mitteln aus dem Amt entfernt und
  • versucht Rechenschaftspflicht zu erzwingen, wo die Exekutive Entscheidungsfreiheit haben muss.

 

Selbsternannte Richter

Exzesse der ersten Kategorie bedeuten, dass sich die Judikative direkt in Vollmachten einmischt, die die Verfassung ausschließlich gewählten Volksvertretern zugesteht. So kann etwa das Parlament mit Zweidrittelmehrheit die Verfassung ändern. Das ist die höchste Form legislativen Handelns in einer Demokratie. Dafür muss sich die Regierungspartei in der Regel mit anderen Parteien einig werden. 2010 hat das oberste Gericht trotzdem eine Korrektur des 18. Amendment (Verfassungsänderung) verlangt. Es argumentierte, das sei nötig, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren. Um eine Konflikt mit dem SC zu vermeiden, nahm das Parlament diese Änderungen mit dem 19. Amendment vor.

Der SC hat somit das exklusive Recht des Parlaments auf Verfassungsänderungen ausgehebelt. Obendrein gelang es dem SC die Judikative in einer Reihe von Urteilen praktisch von jeglicher konstitutionellen Kontrolle abzuschirmen.

Das 18. Amendment sollte die Gewaltenteilung in Pakistan wieder ins Lot bringen. Es schränkte die Macht des Präsidenten ein und stärkte die Legislative. Ein Aspekt war, die Richterberufung transparenter zu gestalten und breite gesellschaftliche Beteiligung daran zu ermöglichen. Das sollte ein zweistufiges Prozedere leisten, das viele Akteure einbezog – Richter, Regierungsvertreter, Organisationen von Rechtsanwälten sowie Parlamentsabgeordnte von Regierung und Opposition.

Der SC sprach aber Parlamentsmitgliedern bei der Richterberufung das Mitspracherecht ab. Das ist ungewöhnlich, weil Abgeordnete durch Wahl legitimiert sind. Überdies spielt die Legislative bei der Richterberufung in vielen Ländern eine Rolle – beispielsweise in den USA und Deutschland. In Pakistan hat heute der SC praktisch die ausschließliche Kontrolle über die Berufung von Richtern.

 

Absetzung gewählter Politiker

In der zweiten Exzesskategorie geht es darum, dass die Justiz gewählte Volksvertreter aus dem Amt zu entfernt. Der SC pocht dabei auf die Einhaltung seiner Urteile, die in direktem Konflikt zu rechtmäßigen politischen Entscheidungen stehen.

Der prominenteste Fall war die Amtsenthebung von Premierminister Yousaf Raza Gillani. Das oberste Gericht verurteilte ihn 2010 wegen Missachtung des Gerichts und schloss ihn rückwirkend aus dem Parlament aus. Da der Premierminister aber Parlamentsmitglied sein muss, konnte Gillani nicht weiter im Amt bleiben.

Der Supreme Court erklärte Gillani für schuldig, weil er sich weigerte, dem Beschluss des Gerichts Folge zu leisten, die Schweizer Regierung um die Wiederaufnahme des Korruptionsverfahrens gegen Präsident Zardari zu bitten. Der SC verursachte so eine Verfassungskrise, die das Land über Monate in Atem hielt. Er setzte sich im Grunde über das Vorrecht des Volkes hinweg, demokratisch legitime Vertreter durch Wahlen aus dem Amt zu entfernen. Der Fall war besonders irritierend, weil der Supreme Court eigentlich den Präsidenten und nicht den Premierminister belangen wollte. Gillani hätte es beinahe als erster Premierminister geschafft, eine ganze Legislaturperiode im Amt zu bleiben.

Die dritte Exzesskategorie umfasst juristische Interventionen, um Mitgliedern der Exekutive eine Rechenschaftspflicht in Angelegenheiten abzuverlangen, die in ihrem Machtbereich und ihrer Entscheidungsfreiheit liegen müssen. Die Affäre, die als „Memogate" bekannt wurde, ist das herausragendste Beispiel.

Ende 2011 startete der Supreme Court Ermittelungen wegen einer Kolumne, die in der Financial Times erschienen war und behauptete, ein Vertreter Pakistans habe im Auftrag von Präsident Zardari dem US-Militär ein „Memo" übergeben. Darin sei die US-Regierung um Unterstützung beim Aufbau eines neuen nationalen Sicherheitsteams gebeten worden, was die bestehende Macht der pakistanischen Armee und der Geheimdienste untergraben hätte. Angeblich war das Motiv für dieses Memo, einen weiteren Militärcoups zu verhindern, der nach dem US-Angriff auf Osama bin Laden kurz zuvor möglich schien.

Das war eine rein politische Angelegenheit ohne verfassungsrechtliche Implikationen. Es wurde auch kein Grundrecht verletzt. Trotzdem hat sich der SC der Sache angenommen, weil er ein potenzielles Risiko für die nationale Sicherheit zu erkennten glaubte. In seiner Verfolgung des vermuteten Autors des Memos – Hussain Haqqani, dem damaligen pakistanischen Botschafter in Washington – griff der SC eine Stimmung auf, die Medien geschürt hatten. Berichte hatten behauptet, dass hochrangige Vertreter der Zivilregierung in staatsfeindliche Aktivitäten involviert seien.

Der Memogate-Fall ist noch nicht beigelegt. Der Supreme Court fordert weiterhin, die Regierung solle Haqqani dazu zu bewegen, aus den USA, wo er zurzeit lebt, nach Pakistan zurückzukehren. Indem sich das Gericht für eine politische Frage zuständig erklärt, hat es den normalen administrativen Prozess zum Skandal erklärt. Zugleich hat es die Macht der Regierung gegenüber untergeordneten, ungewählten Institutionen wie dem Militär und dem Geheimdienst untergraben. Das widerspricht jeglicher demokratischen Rechenschaftspflicht.

All diese Entscheidungen haben gemein, dass der Supreme Court seine PIL-Befugnisse großzügig interpretiert hat. Der SC hat problematische Präzedenzfälle geschaffen, indem er sich in rein politische Fragen eingemischt hat. Dabei hat er entweder die Auslegung von „öffentlichem Interesse" aufgebläht oder „Grundrechte" ziemlich locker aus dem Stehgreif interpretiert. Es fällt auf, dass das Gericht der Frage auswich, ob es denn überhaupt einen Anlass für sein Eingreifen gab.

Derweil hält sich der Supreme Court an seine Präzedenzfälle und behauptet, ohne Letztere könne es keine Demokratie geben. Aber die hier ausgeführten Beispiele belegen, dass die Auffassung des SC über die Unabhängigkeit der Justiz nicht zu demokratischer Regierungsführung passt. Der ungesunde politische Wettbewerb zwischen Judikative und Exekutive geht weiter.

 

Maryam S. Khan lehrt Jura an der Lahore Universityof Management Sciences.
maryamk@lums.edu.pk