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Klimakrise

Pakistans schmelzende Gletscher

Sturzfluten werden im Hindukusch-Himalaya immer häufiger. Lokale Gemeinschaften sind am stärksten gefährdet – aber Gletscherschmelze betrifft auch Menschen, die fernab der Berge leben.
Gletscher im Karakorum-Gebirge. Daffue/Lineair Gletscher im Karakorum-Gebirge.

Vor mehr als einem Jahrhundert wurde Barikan Kot von einer Katastrophe heimgesucht. Ein plötzlicher Wasserausbruch vom Hinarchi-Gletscher überflutet das Bergdorf. Auf dem Gletscher hatte sich ein Schmelzwassersee gebildet und eine Eiswand, die diesen zurückhielt, war geplatzt. Etwa 100 Familien verloren ihr Zuhause und ihre Lebensgrundlage, als Steine, Erde und Schutt über das Dorf, seine Obstgärten und fruchtbares Land geschwemmt wurden.

In der Vergangenheit waren solche Sturzfluten selten. Das hat sich geändert. Das Bagrot-Tal im Karakorum-Gebirge im Norden Pakistans leidet nun jedes Jahr mehrfach unter Überschwemmungen. Die globale Erhitzung wirkt sich auf die Gletscher weltweit aus, und der Hindukusch-Himalaya bildet keine Ausnahme. Besonders in den Sommermonaten führt das schmelzende Eis zu neuen Gletscherseen, die wiederum Sturzfluten verursachen können.

Aisha Khan von der Civil Society Coalition for Climate Change (CSCCC), einer privaten Klimaschutz-Organisation, warnt davor, dass Überschwemmungen durch Gletschersee-Ausbrüche immer wahrscheinlicher werden. „Die Auswirkungen sind katastrophal”, betont sie. In den vergangenen Jahren sind mehrere Dutzend Menschen ums Leben gekommen und noch viel mehr Familien haben ihre Lebensgrundlage verloren. Die lokalen Gemeinschaften sind meist benachteiligt und arm. Laut Aisha Khan besteht die Herausforderung darin, ihnen in einfacher Sprache zu erklären, warum sich die Umwelt verändert und wie sie sich anpassen können.

Die zivilgesellschaftlichen Aktivisten dringen darauf, dass vor allem Frauen gut vorbereitet sein müssen. Sie spielen eine entscheidende Rolle bei Evakuierungen, erster Hilfe und Rettungs- und Hilfsaktionen, sagt Khan. Sie möchte, dass alle Maßnahmen des Risikomanagements sowohl die sozialen Bedingungen im Dorf als auch wissenschaftliche Erkenntnisse widerspiegeln.

Syed Zahid Hussain Shah stimmt zu, dass die Risiken steigen und kontrolliert werden müssen. Er war von 2011 bis 2016 lokaler Manager eines entsprechenden Projekts der pakistanischen Regierung und des pakistanischen Büros des UN-Entwicklungsprogramms (UN Development Programme – UNDP). Er berichtet, dass der Hinarchi-Gletscher heute nur noch 16 Kilometer lang ist. Vor 30 Jahren war er etwa 12 Prozent länger und auch sein Eisschild war höher.

Pakistan hat mehr als 7000 Gletscher. Einer Schätzung zufolge gibt es mehr als 3000 Gletscherseen, 36 davon sind gefährlich. Etwa 7 Millionen Menschen sind dem Risiko von Überschwemmungen durch Gletschersee-Ausbrüche ausgesetzt, die meist im Juli und August, den wärmsten Monaten, auftreten.

Zahids Projekt ergriff im Bagrot-Tal mehrere risikomindernde Maßnahmen. Eine Brücke und Schutzmauern wurden gebaut. Außerdem wurden Bäche ausgehoben und vertieft, damit sie mehr Wasser aufnehmen können. Das Projekt richtete vier digitalisierte Wetterstationen ein, die automatisch Informationen über mögliche Ausbrüche von Gletscherseen weiterleiteten. Dank ihnen ist es möglich geworden, die lokalen Gemeinden frühzeitig zu warnen.

Die Wetterstationen haben viele Leben gerettet. Hussain Ali, der in einem Bergdorf lebt, weiß sie zu schätzen: „Frühwarnung ermöglicht es den Menschen, sich an sicherere Orte zu begeben.“ Dennoch sagt er, dass Sturzfluten in den vergangenen Jahren mehr als 20 Menschen in seiner Region getötet haben. Zudem haben solche Extremwetterereignisse Vieh getötet und Obstgärten sowie Felder zerstört. Mehrere Dutzend Haushalte waren deshalb dazu gezwungen, aus den Bergdörfern ins Tal zu ziehen. Dort ist das Leben zwar einfacher, aber Menschen, die ihren gesamten Besitz verloren haben, haben es schwer, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Die pakistanische Regierung und das UNDP führen nun ein Folgeprojekt mit dem Namen „Scaling-up of GLOF risk reduction in Northern Pakistan (GLOF-II)“ in der Region durch. GLOF steht für „Glacial Lake Outburst Flood“ (Gletschersee-Ausbruch). Das Budget für die Jahre 2017 bis 2021 beträgt 37 Millionen US-Dollar. Das Projekt wird 15 Distrikte abdecken und rund 29 Millionen Menschen zugutekommen.

Die Bergregionen der pakistanischen Nachbarländer Afghanistan, Indien und China sind mit denselben Risiken konfrontiert. Irfan Tariq, der ehemals im pakistanischen Ministerium für Klimawandel arbeitete, weist darauf hin, dass „die gesamte Hindukusch-Himalaya-Bergregion ein sehr empfindliches Ökosystem ist“. Es sei sehr schwierig, die Auswirkungen des Klimawandels auf die Gletscher zu kontrollieren oder zu begrenzen, sagt er, weshalb die pakistanische Regierung die Gletscher genau beobachtet.


Das große Ganze

Das Abschmelzen der Gletscher hat Auswirkungen weit über die Gebirgsketten hinaus. Die Gletscher im Hindukusch-Himalaya speisen die wichtigsten Flüsse Asiens, darunter Indus, Ganges, Brahmaputra, Mekong und Jangtse. Hunderte Millionen Menschen sind von diesen Gewässern abhängig. Asiatische Zivilisationen profitieren seit Jahrtausenden von den Gletschern, die die Wasserversorgung über die Jahreszeiten hinweg stabilisieren (siehe Sheila Mysorekar im Monitor des E+Z/D+C-e-Paper 2017/09). Mit dem Schwinden der Gletscher wird die menschengemachte Infrastruktur die Funktionen erfüllen müssen, die die Gletscher früher auf natürliche Weise erfüllt haben.

In diesem Zusammenhang sind Staudämme sehr wichtig. Die damit verbundene Infrastruktur ist anfällig für Überschwemmungen durch Gletschersee-Ausbrüche. Sollte ein größerer Ausbruch eines Gletschersees einen regelrechten Gebirgs-Tsunami auslösen, könnten die Schäden schwerwiegend sein. Syed Mehr Ali Shah vom pakistanischen Ministerium für Wasserressourcen sagt: „Wir sind sehr besorgt über die größeren Überschwemmungen durch Gletschersee-Ausbrüche. Sie gefährden die Sicherheit unserer bestehenden hydraulischen Infrastrukturen, zu denen auch der Tarbela-Damm gehört.“ Dieser Damm ist mehr als 140 Meter hoch und dient der Stromgewinnung, der Bewässerung und dem Hochwasserschutz.

Im Norden Pakistans gibt es mehrere große Staudämme und ein neuer wird derzeit gebaut. Die Mauer des Diamer-Bhasha-Staudamms wird mehr als 250 Meter hoch sein. Die Sicherheit dieser Bauwerke ist sehr wichtig, sagt Mehr: „Wir müssen sie vor jeder Art von Dammbruch schützen.“ Der Beamte ist zuversichtlich, dass der Bau stark genug ist, um den typischen Überschwemmungen durch Gletschersee-Ausbrüche standzuhalten. Er sagt, der Diamer-Bhasha-Stausee sei so konstruiert worden, dass er jede Dammbruchwelle aushält, die bei solchen Überschwemmungen auftritt. Gleichzeitig sorgen Überlaufrinnen dafür, dass überschüssiges Wasser abgeführt werden kann.

Aber auch wenn Staudämme sturzflutfest gebaut werden können, verursachen Megastaudämme Umweltprobleme. Experten warnen zudem davor, dass die Anpassung der Gesellschaft an die Erderwärmung eine immer ausgeklügeltere und teurere Infrastruktur erfordern wird. Wenn der Klimawandel außer Kontrolle gerät, wird Anpassung für immer mehr Menschen unmöglich sein.

Letztlich gibt es keine Alternative zur Eindämmung des Klimawandels. Laut Climate Analytics, einer unabhängigen Überwachungsorganisation, stößt Pakistan jedoch nur etwa eine Tonne Kohlenstoffdioxid pro Kopf und Jahr aus. Diese Zahl ist vergleichsweise klein. Andere Länder, die weit mehr emittieren, müssen Verantwortung übernehmen und Länder wie Pakistan darin unterstützen, ihre Widerstandsfähigkeit gegen den Klimawandel aufzubauen.


Syed Muhammad Abubakar ist ein in Pakistan lebender Umweltjournalist.
s.m.abubakar@hotmail.com
Twitter: @syedmabubakar