Nationalstaatlichkeit

Der Islam allein reicht nicht aus, um Pakistan als Nation zu definieren

Pakistan ist eine gespaltene Nation mit einem instabilen politischen System. Die Fokussierung auf den sunnitischen Islam hat nicht die erhoffte Einheit gebracht.
Sarg des Opfers eines militanten Anschlags in Belutschistan im April 2024. picture-alliance/Xinhua News Agency/Asad Sarg des Opfers eines militanten Anschlags in Belutschistan im April 2024.

Seit seiner Gründung 1947 strebt Pakistan nach dem Ideal einer vereinten nationalen Identität. Als multikultureller Staat, der sich ursprünglich aus zwei geografisch getrennten „Flügeln“ auf beiden Seiten Indiens zusammensetzte, hat das Land mit der Frage gerungen, was es zu einem „Nationalstaat“ macht. Die islamische Identität wurde zum Kitt, der dieses mehrheitlich muslimische, aber ansonsten sehr vielfältige Land zusammenhält.

Der Islam war eine stark mobilisierende Kraft in der Geschichte der pakistanischen Unabhängigkeit und diente als Quelle politischer Legitimität. Allerdings wurde er häufig zur Unterdrückung von politischem Dissens und damit auch von religiösen Minderheiten eingesetzt. Er diente zudem dazu, die Bedeutung ethnolinguistischer Identitäten abzuschwächen.

Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit gab es in Pakistan eine beträchtliche Hindu-Minderheit, die etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Die meisten lebten im ehemaligen Ostflügel, dem heutigen Bangladesch. Nachdem die Teilung Britisch-Indiens zu brutaler Gewalt zwischen Muslimen und Hindus geführt hatte, versuchte die Regierungsclique Pakistans in den 1950er-Jahren alles, um den politischen Einfluss der Hindus zu untergraben. So wurden beispielsweise „getrennte Wahlkreise“ für alle religiösen Minderheiten geschaffen: Hindus konnten nur für Hindus stimmen, Christ*innen nur für Christ*innen und so weiter.

1971 erkämpfte Bangladesch in einem blutigen Befreiungskrieg die Unabhängigkeit von Pakistan. Zur Legitimation seines völkermörderischen Einsatzes von Gewalt sprach das pakistanische Militär von der „Hindu-Bedrohung“. Heute liegt der Anteil der nichtmuslimischen Bevölkerung in Pakistan laut der jüngsten Volkszählung bei nur etwa drei Prozent.

Der sogenannte islamische Nationalismus ist jedoch im Wesentlichen ein sunnitischer Nationalismus. Schiiten, Ismaeliten und andere muslimische Minderheiten werden diskriminiert und manchmal sogar verfolgt, wie ich vor einigen Jahren auf E+Z dargelegt habe.

Fundamentalistische Milizen

Pakistans Experiment mit dem religiösen Nationalismus ist gescheitert. Am schlimmsten war wohl, dass das Militär über vier Jahrzehnte hinweg gewalttätige fundamentalistische Milizen geschaffen und gefördert hat – zunächst, um im Stellvertreterkrieg der USA gegen die Sowjetunion in Afghanistan in den 1980er-Jahren zu kämpfen. Oft bekämpfen sich die militanten Gruppen aus sektiererischen und anderen Gründen gegenseitig. In Pakistan selbst haben sie schon mehrfach Terroranschläge verübt.

Der Kontext dieser Konflikte ist für alle, die mit ihrer jüngsten Geschichte nicht vertraut sind, äußerst verwirrend. Jedenfalls haben sie die Feindseligkeit vieler gewöhnlicher Pakistanis gegenüber religiösen Minderheiten verstärkt. Davon zeugen Grabschändungen und die häufigen Brandstiftungen an heiligen Stätten von Nichtmuslimen. Die religiöse Polarisierung geht sogar so weit, dass der Mob bei den vermehrten Fällen von Lynchjustiz aufgrund von „Blasphemie“ keinen Unterschied zwischen Muslimen und Nichtmuslimen macht.

Religiöse Zugehörigkeit hat so die ethnolinguistische Vielfalt überschattet, die der föderalen Struktur Pakistans zugrunde liegt. Teilweise trug diese Vielfalt dazu bei, der Übermacht des Militärs zu widerstehen. Der Subnationalismus der Minderheiten schwankt je nach Dominanz der Punjabis und richtet sich teils sowohl gegen den Islamismus als auch gegen die zentralisierende Politik des Staates. Wichtigstes Beispiel: der bengalische Nationalismus und die Gründung von Bangladesch im Jahr 1971.

Die Rolle der Sprache

Infolge dieses Verlusts wurde der neue pakistanische Staat in der Verfassung von 1973 als multinationale Föderation mit vier Provinzen geschaffen: Punjab, Sindh, Khyber Pakhtunkhwa und Belutschistan. Sie spiegeln die verbreitetsten ethnolinguistischen Identitäten wider. Jede Provinz beherbergt aber auch Minderheiten anderer ethnischer oder sprachlicher Gruppen.

Nach Jahrzehnten politischer Instabilität und mehreren Militärputschen stärkte eine Verfassungsänderung im Jahr 2010 diese ethnisch-föderale Struktur. Die Provinzen erhielten weitreichende legislative Befugnisse, was die Macht des Militärs politisch und wirtschaftlich beschränkte.

Auffallend ist, dass islamistische Parteien bei Wahlen kaum eine Rolle spielten. Ethnolinguistische Konkurrenz dagegen ist bedeutsam. Nirgendwo wird dies deutlicher als in Karatschi, Pakistans größter Stadt mit 15 Millionen Einwohner*innen, wo Wirtschaftsmigrant*innen aus dem ganzen Land in ethnisch definierten Vierteln wohnen. Der Wettbewerb zwischen den Ethnien spiegelt sich auch in Quoten für die höhere Bildung und staatliche Stellen. Diese Quoten sollen eine gerechte Vertretung aller Gemeinschaften gewährleisten, geben aber ständig Anlass zur Beanstandung.

Pakistan hat also in puncto Inklusion keine großen Fortschritte gemacht, und die Föderation ist heute alles andere als stabil. Derzeit regiert eine Mehrparteienkoalition, die Anfang des Jahres durch Wahlmanipulation des Militärs an die Macht kam. Ihr gehören zwei große Parteien an, die seit Langem in erbitterter Rivalität zueinander stehen. Herausgefordert wird sie von einer rechtspopulistischen Bewegung, die bei den jüngsten Wahlen weit mehr Sitze gewonnen hat, als das Establishment erwartet hatte.

Das Militär ist darauf bedacht, seine wirtschaftlichen Interessen zu schützen. Sein Manövrieren, in Verbindung mit der anhaltenden Dominanz des Punjab, verheißt nichts Gutes für die ethnischen und sprachlichen Minderheiten. Belutschistan ist ein extremes Beispiel: Die Provinz im rohstoffreichen und dünn besiedelten Südwesten leidet seit Jahrzehnten unter militärischer Unterdrückung. Der Konflikt gipfelte dort in einem Aufstand, der noch anhält. Viele Menschen wurden verschleppt.

Das Militär will die Macht der subnationalen Einheiten zurückdrängen und versucht, Konflikte ausnutzen. Es ist aber offensichtlich, dass seine jahrzehntelange Betonung einer Ordnung auf Basis der muslimischen Einheit nicht funktioniert, sondern nur die aktuellen Spannungen erzeugt hat.

Maryam S. Khan ist Wissenschaftlerin am Institute of Development and Economic Alternatives (IDEAS) in Lahore, Pakistan. Sie hat vor Kurzem an der Universität von Wisconsin, USA, ihre Doktorarbeit in Rechtswissenschaften über die Geschichte der pakistanischen Verfassung abgeschlossen.
maryam.khan@ideaspak.org