Soziale Sicherung
Kein überzeugender Trendsetter
In 500 Jahren kapitalistischer Geschichte hat die Menschheit Kolonialismus, Sklaverei und sogar Völkermord erlebt. Grausame Ausbeutung ging einher mit noch nie dagewesener Produktivität und, für einige wenige, zuvor unvorstellbarem Wohlstand. In den fortgeschrittenen Volkswirtschaften der Welt sieht es ein bisschen besser aus, weil Sozialstaaten existenzielle Armut abgefedert und Ungleichheit ein Stück weit begrenzt haben. In den vergangenen 150 Jahren waren europäische Regierungen sozialpolitische Vorreiter und zeigten, wohin Kapitalismus im besten Fall führen kann.
“European Social Model” (ESM – europäisches Sozialmodell) ist ein geläufiger Begriff, der aber nicht präzise definiert ist. Jacques Delors, der französische Sozialist, der von 1985 bis 1995 an der Spitze der Europäischen Kommission stand, verwendete ihn gern. Ihm ging es darum, die Identität der wachsenden EU in Abgrenzung von anderen kapitalistischen Weltregionen zu markieren. Seine Rhetorik war etwas vage, aber keineswegs hohl, denn europäische Länder haben tatsächlich eine lange Geschichte sozialer Sicherungssysteme. Es ist folglich nicht schwer, auf dieser Basis einige Elemente des ESM zu benennen.
Otto von Bismarcks innovative Sozialpolitik in den 1870er Jahren gilt gemeinhin als der Grundstein des ESM. Angesichts heftiger Klassenkämpfe wollte er die Arbeiterbewegung bremsen. Die der Einführung der beitragsfinanzierten Renten- und Arbeitslosenversicherungen begrenzte die Brisanz der „sozialen Frage“. Langfristig erwies sich diese Politik als sehr erfolgreich (siehe auch Hans Dembowski im Monitor von E+Z/D+C e-Paper 2019/11). Sie schwächte zwar nicht wie erhofft die Sozialdemokraten, trug aber dazu bei, sie zu einer reformorientierten Volkspartei zu machen. Obendrein half sie, im neu vereinigten Deutschen Reich so etwas wie eine nationale Identität zu schaffen (siehe Markus Loewe im Schwerpunkt von E+Z/D+C 2018/11). Manche Länder in Nord- und Westeuropa hatten schon vor Bismarck Reformen eingeleitet, aber seine Politik leitete einen Paradigmenwechsel ein. Andere Länder wie Frankreich und Italien kopierten sie später.
Nach der bolschewistischen Revolution in Russland wurde Sozialpolitik in Europa immer wichtiger. Regierungen mussten etwas gegen den bedrohlichen Sozialismus tun, weshalb sie soziale Sicherungssysteme ausbauten. Zunehmend bedeutete Staatsangehörigkeit zu einem europäischen Land das Recht auf öffentliche Dienstleistungen im Gesundheits- und Bildungswesen sowie Schutz im Alter.
Der eigentliche Aufstieg des Sozialstaats begann aber nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Länder im nordwestlichen Zentrum der EU und Italien erfuhren erstaunlichen sozialen Fortschritt. Die Sozialstaaten wurden bis in die frühen 1970er Jahre immer perfekter und ermöglichten massenhaften Aufstieg. Die Menschen waren von Geburt bis zum Tod versorgt. Dies war die Hochphase des ESM, obwohl der Begriff noch gar nicht gebräuchlich war.
2015 verpflichteten sich die UN auf die Ziele für Nachhaltigkeit (Sustainable Development Goals – SDGs), welche soziale Inklusion betonen. Die These, dass das ESM dabei das Leitbild ist, ließe sich begründen. Das Paradoxe daran ist aber, dass dieses Modell in Europa selbst langsam erodiert. Es steht seit 40 Jahren unter permanenter Attacke.
Noch ein Paradigmenwechsel
Anfang der achtziger Jahre begann die britische Premierministerin Margaret Thatcher eine rigorose Sparpolitik. Präsident Ronald Reagan verfolgte in den USA ein ähnliches Konzept, aber weil der britische Sozialstaat viel stärker ausgeprägt war, waren die Einschnitte in seine Leistungen vermutlich wichtiger. Andere europäische Regierungen folgten bald ihrem Vorbild. Das neue Paradigma lautete „freie Marktwirtschaft“, und Regierungseingriffe waren zunehmend verpönt. Weltweit setzte sich der Marktradikalismus durch.
Professor Guy Standing von der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) hat es prägnant wie folgt formuliert: „Soziale Sicherung ist weltweit zum Schlamassel geworden ... Der Staat hat sich aus der universellen Unterstützung von Einkommen zurückgezogen; Sozialhilfe verdrängt Sozialversicherungen; es gibt eine Vielzahl von Fällen, die Menschen in Armut und Arbeitslosigkeit fallen lassen; und auch die Arbeitgeber streichen freiwillige Sozialleistungen für ihre Mitarbeiter” (Standing 2007, p. 28). In Europa, wo die Sozialpolitik erfunden worden war, war das besonders bemerkenswert.
In der Euro-Krise von 2010 an verdüstert sich die Lage weiter. Sparmaßnahmen, Sozialabbau und die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte trafen breite Schichten hart. Im Februar 2012 sagte Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank, dem Wall Street Journal, das ESM sei „weg“. Sogenannte Strukturreformen hatten alle Pfeiler der sozialen Gerechtigkeit geschwächt und einige sogar niedergerissen.
Die Auswirkungen waren von Schicht zu Schicht und von Region zu Region unterschiedlich. Laut OECD „verloren einkommensschwache Haushalte einen höheren Teil ihrer Einkünfte als bessergestellte ... und zwar besonders in den am härtesten getroffenen Ländern wie Estland, Griechenland, Irland, Italien und Spanien“ (OECD 2014, p. 22 ff.).
Im nordwestlichen Zentrum der EU und in Skandinavien fielen die Einschnitte weniger hart aus. Aber selbst in Deutschland, vermutlich der erfolgreichsten europäischen Volkswirtschaft, macht Altersarmut heute den Bürgern wieder Angst.
In einem gegenläufigen Trend haben einige nichteuropäische Länder seit dem Jahrtausendwechsel ihre Sozialpolitik ausgebaut. Fortschrittliche Regierungen führten in Brasilien die Bolsa Familia, in Südafrika ein Kindergeld und in Indien eine ländliche Beschäftigungsgarantie ein. Obamacare war das überraschende Beispiel neuer sozialpolitischer Großzügigkeit in den USA, während in Europa die Sozialausgaben sanken.
Die EU statuiert heute mit sozialpolitischen Innovationen keine Exempel mehr, wobei die Sozialausgaben der Mitgliedsländer tendenziell noch immer hoch sind. In Westeuropa betragen sie einer groben Faustregel zufolge etwas mehr als ein Viertel der Wirtschaftsleistung, während die Vergleichsquote weltweit nur 9 Prozent beträgt und asiatische und afrikanische Länder im Schnitt nicht einmal auf fünf Prozent kommen. Die EU steht nicht mehr mit der Überzeugung, die Jacques Delors an den Tag legte, hinter dem ESM. Der Begriff ist bedeutungslos geworden.
Wir leben in turbulenten Zeiten. Die Weltfinanzkrise, die globale Erhitzung und neue Handelskriege sind Belege dafür, dass die Marktorthodoxie gescheitert ist. Unruhen erschüttern Lateinamerika sowie Nordafrika und den Nahen Osten. Offensichtlich brauchen wir einen neuen globalen Gesellschaftsvertrag im Geiste der SDGs. Europa sollte dazu beitragen. In Frankreich fordern die „Gelbwesten“ letztlich die Rückkehr zum ESM, und dass der Aufstieg der Populisten viel mit den Abstiegsängsten der Menschen zu tun hat, braucht nicht wiederholt zu werden.
Links
Standing, G., 2007: How cash transfers boost work and economic security. In: UN DESA Working Paper No. 58ST/ESA/2007/DWP/58.
https://www.un.org/esa/desa/papers/2007/wp58_2007.pdf
OECD, 2014: Society at a glance 2014.
https://www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/society-at-a-glance-2014_soc_glance-2014-en
Praveen Jha ist VWL-Professor an der Jawaharlal Nehru University in Delhi.
praveenjha2005@gmail.com