Entwicklung und
Zusammenarbeit

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NATO

Mehr Waffen bringen keine Lösung

Aus Sicht deutscher Hilfswerke ist in Afghanistan ein grundlegender Politikwechsel nötig, der die militärische Gewaltspirale beendet. Gebraucht wird verstärkter, von den Afghanen selbst bestimmter ziviler Aufbau.


[ Von Jürgen Lieser und Peter Runge ]

Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 schenkt die deutsche Politik Afghanistan große Aufmerksamkeit. Davor war das Interesse gering. Die fundamentalistischen Taliban, die Mitte der 90er Jahre die Macht ergriffen hatten, waren international isoliert und geächtet. Ihre menschenverachtende Politik und die katastrophale humanitäre Situation im Land wurden allenfalls mit Bedauern und Achselzucken zur Kenntnis genommen.

2001 marschierten die USA im Land ein. Bald darauf entsandten auch andere NATO-Länder Truppen. Dennoch ist die Entwick­lung am Hindukusch längst wieder besorgniserregend. Der Norden des Landes, wo die Bundeswehr die Verantwortung für die Sicherheit in neun Provinzen trägt, galt lange als ruhig. Er ist es längst nicht mehr. Auch hier rühren sich die Taliban und andere bewaffnete Gruppen.

Im Oktober schlugen die in Afghanistan tätigen deutschen Hilfswerke angesichts eskalierender Gewalt Alarm. Die Sicherheitslage der Zivilbevölkerung wird schlechter, auch die Mitarbeiter internationaler Organisationen sind bedroht.

Die Entwicklung scheint paradox: Je mehr Soldaten nach Afghanistan geschickt wurden, umso schlechter wurde die Sicherheitslage. Mitte 2008 waren 65 000 ausländische Soldaten in Afghanistan – viermal mehr als 2004. Dennoch ist die Zahl der Attentate und Selbstmordanschläge dramatisch gestiegen (Hippler 2008). ACBAR, die Dachorganisation der in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen, schätzt, dass allein in den ersten sieben Monaten des Jahres 2008 1000 Zivilisten in Folge von Kampfhandlungen starben.

Im Kampf gegen Aufständische nimmt die NATO zunehmend Tote unter der Zivilbevölkerung in Kauf. Das trägt nicht zu ihrer Akzeptanz im Land bei. Zudem verletzt sie humanitäres Völkerrecht. Die afghanische Bevölkerung lehnt den „Kampf gegen den Terror“ immer stärker ab.

Die Unterschiede zwischen Terrorbekämpfung unter dem Mandat der Operation Enduring Freedom (OEF) und der Internationalen Stabilisierungs- und Unterstützungsmission (ISAF) verschwimmen, so dass mittlerweile alle ausländischen Soldaten als Teil einer Besatzungsmacht wahrgenommen werden. Rücksichtslose OEF-Eingriffe wirken derweil wie ein Terror-Förderungsprogramm, weil die hohen Opferzahlen die Bevölkerung gegen die fremden Truppen aufbringen. So entsteht Gewaltbereitschaft und ein Nährboden für bewaffnete Gruppen.

Inzwischen sehen viele Entscheidungsträger im Westen ein, dass der Krieg militärisch nicht zu gewinnen ist. Während einige Länder – etwa Kanada und die Niederlande – ihre Truppen in Afghanistan sukzessive reduzieren und mittelfristig abziehen wollen, weiten andere Nationen aber ihr militärisches Engagement aus. Der Deutsche Bundestag hat im Oktober das Truppenkontingent in Afghanistan auf maximal 4500 Soldaten erhöht.

Aus Sicht von VENRO, dem Verband der Entwicklungspolitischen Nicht-Regierungsorganisationen in Deutschland, sollte sich die Bundesrepublik NATO-Forderungen nach mehr Soldaten in Afghanistan mit dem Verweis auf den Teufelskreis der Gewalt widersetzen und stattdessen eine mittelfristige „Exit“-Strategie entwickeln. Jedenfalls muss die kontraproduktive OEF so schnell wie möglich eingestellt werden.

Eines der größten Probleme für die NRO-Arbeit in Afghanistan resultiert aus dem Konzept der zivil-militärischen Zusammenarbeit (Civil-Military Cooperation). Mit der Einführung der gemischten zivil-militärischen „Provincial Reconstruction Teams“ (PRTs) in Kundus und Faisabad Ende 2003 wollte Deutschland dazu beitragen, den Wiederaufbau, den Demokratisierungsprozess und die Autorität der Kabuler Zentralregierung zu sichern. Den PRTs ist das aber offensichtlich nicht gelungen.

Dass das PRT-Konzept die Mandate von zivilen und militärischen Akteuren vermischt, ist besonders problematisch. So nimmt die Bundeswehr aus strategischen Gründen auch Aufgaben im Bereich des Wiederaufbaus und der Nahrungsmittelhilfe wahr, um die „Herzen und Köpfe“ der Menschen in Afghanistan zu gewinnen. Dadurch gefährdet sie aber die Unabhängigkeit der humanitären Hilfe, die sich eben nicht nach politischen oder militärischen Erwägungen richten darf. Diese Vermischung unterschiedlicher Aufgaben führt zu wachsenden Sicherheitsrisiken für die NRO.

Im Sog des Vertrauens­verlusts

Die Stimmung ist gekippt: Anfangs hat die Bevölkerung deutsche Soldaten bejubelt, heute werden sie häufig mit Steinen beworfen. Sie gelten als Besatzer – und ausländische Hilfswerke als ihre Handlanger. Einige humanitäre Organisationen haben ihre Arbeit in Afghanistan bereits eingestellt, weil sie in den Sog des allgemeinen Vertrauensverlustes gerieten und zum Ziel von Anschlägen wurden.

Seit 2002 sind zweifellos Fortschritte erzielt worden:
– Der Aufbau demokratischer Strukturen ist vorangekommen,
– die Regierung in Kabul hat eine nationale Entwicklungsstrategie vorgelegt,
– es wurden 4000 Kilometer Straße gebaut,
– ein großer Teil der Jungen und Mädchen geht wieder zur Schule, und
– 85 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu medizinischer Gesundheitsversorgung.

Bevölkerungswachstum, Landflucht und eskalierende Gewalt relativieren indessen die Fortschritte. Afghanistan bleibt eines der ärmsten Länder der Welt.

Der Staatsaufbau („state building“) muss nachhaltig unterstützt werden, damit Bemühungen um Frieden, Wiederaufbau und Entwicklung Erfolg haben können. Die internationale Gemeinschaft muss darauf hinwirken, die weit verbreitete extreme Armut zu bekämpfen und die militärischen, polizeilichen und ökonomischen Institutionen in Afghanistan zu stärken. Afghanistan braucht angemessen ausgebildete, ausgestattete und besoldete eigene Militär- und Polizeieinheiten.

NATO-Truppen können den Krieg aber offenkundig nicht gewinnen. Deshalb sollte der Schwerpunkt der deutschen und internationalen Unterstützung Afghanistans auf den zivilen Aufbau verlagert werden. Das eklatante Missverhältnis zwischen Ausgaben für militärische und zivile Zwecke (ungefähr 4:1) muss korrigiert werden.

Parallel zum Staatsaufbau muss auch der zivilgesellschaftliche Aufbau vorangebracht werden. Viele der in Afghanistan tätigen internationalen NROs engagieren sich bereits seit vielen Jahren dort. Sie greifen auf gewachsene Strukturen und Partnerorganisationen zurück, die sich vor Ort auskennen. Die afghanische Zivilgesellschaft wird allerdings nur dann sinnvoll gestärkt werden, wenn alle ethnischen und religiösen Gruppen inklusive der Minderheiten berücksichtigt werden.

Die Karsai-Regierung hat an Glaubwürdigkeit verloren – und zwar besonders bei den ethnischen Minderheiten. Die Regierung tut wenig, um die Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien durchzusetzen. Die internationale Gemeinschaft sollte die afghanische Regierung dazu verpflichten – insbesondere mit Blick auf Frauen und Mädchen. Das 2007 verabschiedete Amnestiegesetz für Kriegsverbrecher sollte dagegen zurückgenommen werden.

Wegen Korruption und Verwicklung in den internationalen Drogenhandel schwindet auch das internationale Vertrauen in die Regierung Karsai. Die internationale Gemeinschaft muss noch stärkeren Druck auf Kabul und die Provinzregierungen aus­üben, die allgegenwärtige Korruption energischer zu bekämpfen. Karsai verdient aber Unterstützung in Sachen Drogenbekämpfung, die entschlossen angegangen werden muss. Er hat recht, dass der Anbau von alternativen Produkten dabei Vorrang vor der Zerstörung der Mohnfelder haben muss.

Für den innerafghanischen Friedens-und Versöhnungsprozess ist ein umfassender und alle gesellschaftliche Gruppen einschließender Dialog notwendig. Gemäßigte Taliban müssen einbezogen werden – zunächst auf lokaler und, sobald möglich, auch auf nationaler Ebene.

Der designierte US-Präsident Barack Obama hat angekündigt, 7000 zusätzliche Truppen nach Afghanistan zu entsenden. Der Sieg in diesem Krieg soll eine Priorität seiner Regierung werden. In seiner Berliner Rede im Juli sagte er, die USA könnten den Konflikt alleine nicht lösen und bräuchten Unterstützung auch aus Deutschland. Die Strategie, erst aufrüsten, dann verhandeln, halten deutsche Hilfswerke für falsch.

Positiv ist jedoch, dass Obama auch von einer Verhandlungslösung spricht, welche Afghanistans Nachbarn Iran und Pakistan einbezieht. Aus solchen Äußerungen lässt sich ein sinnvoller neuer Ansatz für einen regionalen Versöhnungsprozess ableiten. Hoffentlich erkennt Obama, dass Frieden sich nicht herbeibomben lässt. In jedem Fall sind die Chancen gestiegen, von deutscher Seite her auf einen internationalen Paradigmenwechsel zu dringen.

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