Migration in Lateinamerika

Venezolaner*innen verlassen ihr Land auf gefährlichen Trecks

Die Abwanderung von Menschen aller Altersgruppen aus Venezuela geht nach wie vor weiter. Ihre Migration folgt aber einer veränderten makroökonomischen Dynamik, die zeigt, dass sie zunehmend versuchen, nach Nordamerika zu gelangen.
Nach der Durch­querung des Dschungels stehen Menschen in Bajo Chiquito, einer panamaischen Gemeinde in der Region Darién, Schlange. picture-alliance/EPA/Bienvenido Velasco Nach der Durch­querung des Dschungels stehen Menschen in Bajo Chiquito, einer panamaischen Gemeinde in der Region Darién, Schlange.

Verschiedene lateinamerikanische Länder sind venezolanischen Flüchtlingen gegenüber eher feindselig eingestellt. Deshalb steigt die bereits bestehende Beliebtheit von Nordamerika als Migrationsziel. 2022 durchquerten laut der Regierung Panamas 250 000 Migranten und Flüchtlinge den sogenannten Darién Gap zwischen Kolumbien und Panama. Die Durchquerung dieses Dschungelgebiets gilt als besonders gefährlich, aber die Route wurde schon immer genutzt – nicht nur von Migrant*innen und Geflüchteten, sondern auch von Drogenhändler- und Schmuggler-Gruppen.

Meist sind es Venezolaner*innen auf dem Weg in die USA oder nach Kanada, die den Dschungel in der kolumbianischen und panamaischen Grenzregion durchqueren, aber auch Menschen aus anderen Ländern nehmen die gefährliche Route auf sich. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) gibt es derzeit weltweit mehr als 7,13 Millionen Geflüchtete und Migrant*innen aus Venezuela – ein Viertel der Bevölkerung des Landes.

Die Aufnahmeländer haben ihre Verpflichtung zum Schutz der Geflüchteten bisher bestenfalls halbherzig erfüllt. Selbst die neue linksgerichtete Regierung Kolumbiens hat ihre Unterstützung für die Venezolaner*innen zurückgefahren und verfügt über kein wirklich funktionierendes Meldesystem zur Erfassung der Zahl der Geflüchteten und Migrant*innen.

Gleichzeitig zeigt der Fall Kolumbien aber auch, wie interne Spannungen und globale Herausforderungen mit der Fähigkeit und den Ressourcen eines Landes kollidieren, Menschen zu schützen. Wie ganz Lateinamerika wurde Kolumbien von der Covid-19-Pandemie schwer getroffen, auch wenn sich einige wirtschaftliche Indikatoren zu erholen scheinen. Hinzu kommt, dass die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft schwindet, was den Schutz der ohnehin gefährdeten Migrant*innen und Geflüchteten schwächt.

Das kolumbianische Amt für Migration schätzt, dass derzeit fast drei Millionen Venezolaner*innen in Kolumbien leben. Fast sechs Prozent der Bevölkerung Kolumbiens sind somit Venezolaner*innen. Ihre Präsenz hat zu fremdenfeindlichen Äußerungen populistischer Politiker geführt, die die Abschiebung von Venezolaner*innen fordern. Manche glauben, venezolanische Geflüchtete seien direkt für die Verschlechterung der Sicherheitslage in Kolumbien verantwortlich, obwohl Studien keinen eindeutigen Zusammenhang feststellen können. Dennoch gibt es kriminelle venezolanische Gruppen, die ihre Aktivitäten über Migrant*innennetzwerke auf andere Länder wie Kolumbien ausgeweitet haben. Migrant*innen und Geflüchtete waren auch in bereits bestehende kriminelle Aktivitäten in Kolumbien verwickelt.

Minderjährige durchqueren den Dschungel

Die daraus resultierende Stigmatisierung und allgemeine Feindseligkeit schränken die Möglichkeiten der gesetzestreuen Mehrheit der venezolanischen Migrant*innen weiter ein. Nachdem sie ihr Herkunftsland verlassen haben, in dem die Kindersterblichkeit hoch und die Lebensbedingungen schlecht sind, zwingt sie die Ablehnung ihrer Nachbarländer dazu, weiter nach besseren Perspektiven zu suchen – meist jenseits des Darién Gap.

Nicht nur junge Männer wagen sich auf diese gefährlichen Trecks. Überall in Lateinamerika durchqueren schwangere Frauen oder Familien mit Kleinkindern den Dschungel oder Berge wie die Anden. Zwanzig Prozent der Menschen, die den Darién überqueren, sind minderjährig. Die Risiken, die Eltern und Familien eingehen, unterstreichen ihre tragische Situation.

Ein ganzer Wirtschaftszweig ist entstanden, der meist von illegalen Organisationen betrieben wird und Dienstleistungen wie Transport, Verpflegung, Bestechung von Beamt*innen und Informationen über Routen anbietet. Auch deshalb versuchen immer mehr Menschen durch gefährliches Terrain in Lateinamerika zu reisen, um anderswo Schutz oder ein besseres Leben zu suchen – bevorzugt in Nordamerika.

Höchstwahrscheinlich werden sie das weiterhin tun, da die Inflation in der Region gestiegen ist und das Wirtschaftswachstum vielerorts stagniert. Die Venezolaner*innen, die in ein anderes lateinamerikanisches Land emigriert sind, sehen sich gezwungen, nach Venezuela zurückzukehren, weil sie ihre wachsenden Ausgaben und gleichzeitig die Unterstützung ihrer Familien zu Hause nicht mehr decken können. Die einzige Alternative scheint zu sein, ihre Reise fortzusetzen und nach Orten mit höheren Löhnen und besseren Lebensbedingungen zu suchen. Der Großteil meint, dass solche Orte in Kanada oder den USA zu finden sind.

Aus makroökonomischer Sicht hilft der Druck der USA durch das Federal Reserve System der Situation nicht. Durch die Erhöhung der Zinssätze gibt es mehrere Dominoeffekte. Erstens steigert sie den Schuldendienst der Entwicklungsländer (was die verfügbaren Mittel für Sozialprogramme reduziert). Zweitens verdrängt sie internationale Investitionen (was zu höheren Wechselkursen führt). Und drittens erhöht sie die Kosten für den Import von Waren (was Länder direkt betrifft, die auf den Import von Grunderzeugnissen wie Brennstoff oder Getreide angewiesen sind). Im Angesicht schwacher sozialer Sicherungssysteme ist menschenwürdiges Leben so kaum mehr möglich.

Um Menschen davon abzuhalten, sich auf tödliche Routen zu begeben, muss man ihre Lebensbedingungen zu Hause verbessern. Dazu bedarf es der Förderung eines gerechten Wirtschaftswachstums in den Ländern der Region. Aber in Venezuela werden das Joch des autoritären Regimes und die internationalen Sanktionen weiter bestehen, und die Aussichten für die internationale Wirtschaft bleiben düster. Die Maßnahmen der US-Notenbank heizen die Dynamik weiter an, die zu einer noch größeren Abwanderung von Menschen und zum Niedergang weiterer Volkswirtschaften in der Region führen wird.

Fabio Andrés Díaz Pabón ist Forscher am African Centre of Excellence for Inequality Research der Universität Kapstadt und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Rhodes-Universität in Südafrika.
diazpabon@iss.nl

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