Pharmazie

Versorgung im Katastrophenfall

Bei Naturkatastrophen, kriegerischen Unruhen, Vertreibung oder Flucht treten vermehrt Infektionskrankheiten auf. In diesen Fällen sind medizinische Einsatzteams mit einer Reihe von ansteckenden Krankheiten konfrontiert, die unter normalen Umständen nicht in diesem Ausmaß auftreten. Den Helfern stehen für verschiedene Szenarien fertige Notfallkits zur Verfügung.
Action medeor lieferte nach dem Tsunami 2013 Medikamente auf die Philippinen: Albino M. Duran Memorial Hospital in Balangiga. action medeor Action medeor lieferte nach dem Tsunami 2013 Medikamente auf die Philippinen: Albino M. Duran Memorial Hospital in Balangiga.

Im Katastrophenfall sind vier Infektionskrankheiten gefürchtet und besonders bei Kindern oft lebensgefährlich: Infektionen der Atemwege, Durchfallerkrankungen, Masern und Malaria. Diese Krankheiten verursachen in vielen Konfliktgebieten 60 bis 90 Prozent der Todesfälle.

Im Katastrophenfall greifen Helfer gern auf das SPHERE-Handbuch Humanitarian Charter and Minimum Standards in Humanitarian Response zurück, das in seiner Ausgabe von 2011 in vielen Sprachen vorliegt. Es ist ein international bekanntes und anerkanntes Regelwerk von allgemeinen Prinzipien und weltweit geltenden Minimumstandards in der Katastrophenhilfe. Das SPHERE-Projekt ist ein freiwilliger Zusammenschluss von verschiedenen Organisatio­nen, die das Ziel haben, humanitäre Hilfe zu verbessern und die Akteure zu verlässlichen Partnern für Geldgeber und den betroffenen Menschen zu machen.

Vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung von ansteckenden Krankheiten und deren Behandlung sind ein wichtiger Aspekt für SPHERE. Diese Maßnahmen werden im Kapitel Minimum Standards for Health Action beschrieben. Nach SPHERE sind dies unter anderem die Auswahl geeigneter Unterkünfte an geeigneten Orten, eine ausreichende Wasserversorgung, gute Wasserqualität, geeignete Abwasserentsorgung, ausreichende sanitäre Anlagen, vorbeugende Impfungen, Vektorkontrolle und die Gesundheitserziehung.


Qualitätsstandards in der humanitären Hilfe

Sobald es zu einem Krankheitsausbruch gekommen ist, sollten alle Betroffenen die Möglichkeit einer Diagnose und den Zugang zu einer effektiven Therapie haben. Bestimmte Programme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wie Integrated Management of Childhood Illnesses (IMCI) und Integrated Management of Adult Illnesses (IMAI) enthalten wichtige Verfahren, die dabei helfen, früh eine richtige Diagnose zu stellen. Werden diese Leitlinien befolgt, gibt es weniger Sterbefälle.

Der Ausbruch einer Infektionskrankheit muss schnell erkannt und beantwortet werden, da einzelne Krankheitsfälle sich epidemisch ausweiten können. SPHERE enthält einen Leitfaden für ein Frühwarnsystem (EWARN) für die Detektion von Ausbrüchen; für bestimmte hochansteckende Erkrankungen wie Cholera, Masern und Meningitis ist eine wöchentliche Überwachung und sofortige Meldung von neuen Fällen vorgesehen. Wurde der Ausbruch bestätigt, werden die notwendigen Maßnahmen wie Kontrolle des Infektionsherdes (z.B. durch Isolation), Unterbrechung der Ansteckung (z.B. durch Impfkampagnen) und eine schnelle und umfassende Diagnostik und Behandlung eingeleitet.

Neben der Vorbeugung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten durch Impfkampagnen und Maßnahmen der Hygiene wie Wasseraufbereitung, Händewaschen und Toilettenbau müssen den medizinischen Helfern genügend geeignete, qualitativ hochwertige Arzneimittel zur Behandlung zur Verfügung stehen.


WHO Kits liefern schnelle Hilfe

Im Not- und Katastrophenfall greifen medizinische Einsatzkräfte auf eine von der WHO und großen internationalen Nichtregierungsorganisationen entwickelte standardisierte Ausrüstung, das sogenannte Interagency Emergency Health Kit, zurück. Dieses Kit enthält eine Zusammenstellung von Medikamenten, medizinischem Verbrauchsmaterial und anderen Dingen, die notwendig sind, um die Bevölkerung zu versorgen. Grundannahme für die Zusammenstellung der einzelnen Komponenten ist, dass im Notfall 10 000 Menschen, die nicht in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können, drei Monate versorgt werden können. Die Kosten dafür sind überschaubar und die Kits können über kommerzielle und gemeinnützige pharmazeutische Großhändler bezogen werden, die sie innerhalb weniger Stunden zur Verfügung stellen.

Das Kit besteht aus zehn Basiseinheiten und einer sogenannten Supplementary Unit. Die Basiseinheiten sind für 1000 Kinder und Erwachsene ausgelegt und können auch von Gesundheitshelfern genutzt werden, die keine formale Ausbildung genossen haben. Das Supplementary Kit enthält zusätzliche Arzneimittel, Medizinprodukte und Verbrauchsmaterial, die zum Beispiel auch Operationen ermöglichen. Es soll von Ärzten und professionellen Gesundheitshelfern benutzt werden.

In Bezug auf die Vorbeugung und Behandlung von Infektionskrankheiten enthält das Basic Kit Desinfektionsmittel und das Antibiotikum Amoxicillin. Immer wenn komplizierte Infektionen vorliegen oder wenn Resistenzen vermutet werden, müssen die Patienten an Stationen oder Krankenhäuser auf der nächsthöheren Ebene verwiesen werden. Da es bei schlechten hygienischen Verhältnissen oft zu Augeninfektionen kommt, ist im Basic Kit auch die antibiotische Augensalbe Tetracyclin 1 % enthalten. Für die Behandlung von Malaria kann ein Zusatzmodul angefordert werden.

Das Supplementary Kit enthält Tabletten zur Wasseraufbereitung und eine ganze Reihe von Antibiotika für die orale und intravenöse Behandlung von Infektionen. Für Regionen, in denen ein Choleraausbruch oder eine Durchfallepidemie, die durch einen anderen Erreger ausgelöst wird, befürchtet wird, steht das sogenannte WHO Interagency Diarrhoeal Disease Kit zur Verfügung. Es enthält neben großen Mengen von Desinfektionsmitteln auch alles, was zur Flüssigkeitssubstitution notwendig ist: orale Rehydratationslösung, Infusionslösungen, Kanülen, Perfusionsbestecke und so weiter. Als Antibiotika werden Doxycyclin, Erythromycin und Ciprofloxacin empfohlen.

Parallel zu den ersten Hilfsmaßnahmen ist laut SPHERE-Standard zu prüfen, welche Arzneimittel auf der nationalen Liste der wichtigsten Arzneimittel enthalten sind. Mit der verantwortlichen nationalen Gesundheitsbehörde soll geprüft werden, ob diese Liste in Bezug auf den Einsatzfall zweckmäßig ist. Falls ja, sollte die internationale Hilfe diese Liste – auch wenn nötig mit Hilfe von Arzneimittelspenden – umsetzen.


Bedarfsorientierte Hilfe

Vorgepackte und standardisierte Kits stellen ein sogenanntes „Push-System“ dar, da zugunsten einer erhöhten Schnelligkeit auf den konkreten Bedarf des einzelnen Empfängers nicht eingegangen wird. Asymmetrische Verbräuche führen schnell zu Über- oder Unterbevorratung.

Auf den pharmazeutischen Bereich spezialisierte Hilfsorganisationen wie das Deutsche Medikamentenhilfswerk action medeor, Apotheker helfen und Apotheker ohne Grenzen haben einen anderen Ansatz und gehen als professionelle Unterstützer der medizinischen Teams auf den Bedarf der Patienten ein. So hat action medeor nach dem Tsunami 2013 auf den Philippinen und nach dem Erdbeben in Nepal 2015 temporäre Arzneimittelverteilerstellen unter Berücksichtigung der nationalen Besonderheiten und Vorgaben und in ständiger Rücksprache mit den staatlichen Stellen einerseits und den vor Ort arbeitenden medizinischen Helfern aufgebaut. Damit konnten sich die nationalen und internationalen medizinischen Teams sowie die örtlichen Gesundheitsstationen und Krankenhäuser mit hochwertigen, angepassten Arzneimitteln und medizinischem Verbrauchsmaterial versorgen. Diese Art der Bestimmung des Bedarfs durch den Nutzer wird „Pull-System“ genannt. Im Laufe einer Katastrophe wird in der Regel vom Push- auf das Pull-System umgestellt.

Um Infektionskrankheiten effektiv und zielgerichtet behandeln zu können, sollte eine ausreichende Auswahl von Medikamenten zur Verfügung stehen, die auch in speziellen Situationen wie der Entwicklung von resistenten Keimen oder wenig empfindlichen Keimen wirksam sind.

Die medizinischen Hilfsorganisationen müssen ein System für ihr Medikamentenmanagement einrichten. Ziel ist es, ein wirksames, kosteneffizientes System aufzubauen, das auch die korrekte Lagerung, den rationalen Einsatz und die Entsorgung mit einschließt. Dies gilt für die kleineren medizinischen Einsatzteams wie für die Organisation und Verwaltung von Arzneimittelspenden auf regionaler oder nationaler Ebene.

Auf den pharmazeutischen Bereich spezialisierte Hilfsorganisationen bieten auch hier ihre Hilfe und Unterstützung zum Beispiel durch Trainings der medizinischen Teams vor dem Einsatz in Deutschland oder auch durch Unterstützung, Belieferung und Medikamentenmanagement im Einsatz vor Ort an.


Shushan Tedla ist eritreische Pharmazeutin, die in Deutschland den Master of International Health erwarb. Sie arbeitet für action medeor und war pharmazeutische Leiterin der temporären Arzneimittelverteilerstelle auf den Philippinen und in Nepal.
shushan.tedla@medeor.de
http://www.medeor.de

Irmgard Buchkremer-Ratzmann ist Apothekerin mit Erfahrung in Forschung und Industrie. Sie ist Leiterin der Abteilung Pharmazie und koordiniert die pharmazeutische Fachberatung bei action medeor.
irmgard.buchkremer@medeor.de


Links
SPHERE Handbook, 2011:
http://www.sphereproject.org/
WHO Interagency Emergency Health Kit:
http://www.who.int/medicines/publications/emergencyhealthkit2011/en/