Weltpolitik
Haltet euch an eure Predigten
Mahbubani lehrt Politikwissenschaft an der nationalen Universität Singapurs. Überzeugend legt er in seinem neuen Buch „Has the West lost it?“ dar, weshalb „der Westen“ ein Eigeninteresse an einer Regel-gebundenen Weltordnung hat. Er betont, die Europäische Union habe dauerhaften Frieden auf einem Kontinent geschaffen, auf dem früher häufig Kriege tobten. Er sieht westliche Regierungen, deren globale Vormacht schnell schwinde, in Gefahr, eine große Chance zu verspielen.
Der frühere UN-Botschafter bezieht sich ausdrücklich auf aufklärerischen Impetus von Steven Pinker und dessen umfangreiche Daten, die positive Entwicklung bei Dingen wie Kindersterblichkeit, Hunger, Frieden, Unfällen und anderen Dingen zeigen (siehe auch E+Z/D+C e-Paper 2018/07, S. 16). Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern sei derlei klarer bewusst als denen in Industrieländern, schreibt Mahbubani. Der Westen solle nun multilaterale Konzepte entschlossen umsetzen, damit globale Entwicklungsziele erreicht würden.
Ihn treibt aber die Sorge um, Frustration über relative Stagnation könne in den hochentwickelten Ländern zu kurzsichtigem und destruktivem Nationalismus führen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass US-Präsident Donald Trump den internationalen Einfluss seines Landes schmälert, Amerika aber sicherlich nicht wieder „groß“ macht.
Historische Leistungen des Westens sind aus Sicht Mahbubanis:
- die Ablösung des Feudalismus durch rationale Politik,
- die Überwindung des Fatalismus und
- technischer Fortschritt.
Die Überschrift eines Kapitels lautet entsprechend sogar: „Das Geschenk westlicher Weisheit“. Mahbubani meint aber, asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Länder hätten diese Lektionen gelernt und beherzigten sie auch. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis China und Indien – die beiden bevölkerungsreichsten Nationen – auch die größten Volkswirtschaften würden.
Auf der Basis rationaler Entscheidungen wüchsen viele Volkswirtschaften heute schnell, sodass „der Rest” zunehmend gegenüber dem Westen aufhole. So habe etwa 2015 der Anteil der G7 an der weltweiten Wirtschaftsleistung 31,5 Prozent betragen, wohingegen die sieben größten Schwellenländer zusammen auf 36,3 Prozent gekommen seien. Mahbubanis Urteil lautet: „Fast 200 Jahre lang stand der Westen welthistorisch an der Spitze. Nun muss er lernen, diese Position mit anderen zu teilen und sogar aufzugeben, um sich einer Welt anzupassen, die er nicht länger dominieren kann.“
Der ehemalige Diplomat nennt mehrere gravierende Fehler westlicher Staaten in den vergangenen Jahrzehnten. Ihre Arroganz habe Ressentiments in vielen Ländern genährt – zum Beispiel in Russland sowie in muslimisch geprägten Regionen. Allzu oft hätten westliche Mächte gedankenlos und kontraproduktiv in die Innenpolitik von Ländern eingegriffen. Das schlimmste Beispiel war vermutlich der Irakkrieg, den US-Präsident George W. Bush ohne Mandat des Sicherheitsrats auf Basis von Lügen begann. Mahbubani äußert zwar Verständnis dafür, dass viele US-Bürger sich über die russische Einflussnahme auf die Wahlen 2016 ärgern, erinnert aber zugleich daran, dass US-Regierungen unter verschiedenen aufeinanderfolgenden Präsidenten sich gern in die Innenpolitik fremder Länder einmischten.
Mahbubani fordert westliche Regierungen dazu auf, Global-Governance-Institutionen wie die UN, den internationalen Währungsfond, die Weltbank und die Weltgesundheitsorganisation zu stärken. Aus seiner Sicht ist ein neuer globaler Konsens nötig, dessen Basis die UN-Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sein könnten. Deren Werte erklärt der Autor für „universell“. Der Westen könne zu der langfristigen Verankerung dieser Werte beitragen, wenn er selbst multilaterale Prinzipien einhalte. Zynische Manipulationsversuche würden dagegen den Abstieg des Westens nur weiter beschleunigen.
Westliche Politiker sollten Mahbubani ernst nehmen. Er artikuliert Sichtweisen, die in Entwicklungs- und Schwellenländern weit verbreitet sind. Leser in Asien, Afrika und Lateinamerika sollten indessen prüfen, ob alles stimmt, was der Autor behauptet. Er liefert beispielsweise keine nennenswerten Belege für seine Behauptungen, der chinesische Präsident Xi Jinping fühle sich seinem Volk gegenüber verantwortlich oder dem indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi sei an besserer Regierungsführung gelegen. Bekanntlich schränken beide zivilgesellschaftliche Freiheiten ein und festigen eifrig ihre persönliche Macht.
Tatsächlich gelangen der Volksrepublik die größten Erfolge in Armutsbekämpfung, bevor Xi an die Staatsspitze kam (siehe Nora Sausmikat in E+Z/D+C e-Paper 2017/02, S. 33). Die Meinungsfreiheit wird dagegen wieder aggressiver unterdrückt. Auch in Indien, wo offiziell noch Pressefreiheit herrscht, wächst der Druck auf oppositionelle Stimmen (siehe Arfa Khanum Sherwani in E+Z/ D+C e-Paper 2018/05 S. 23). Mahbubanis Kritik des Westens verdient sicherlich mehr Aufmerksamkeit als sein Lob asiatischer Potentaten.
Er definiert „gute“ Regierungsführung nicht als „demokratische“, sondern als „funktionale“ Regierungsführung. Das ist nicht überzeugend. Singapur ist der ungewöhnliche Fall eines relativ autoritär regierten Landes mit relativ geringer Korruption. Wer dort lebt, mag zur Einschätzung gelangen, diktatorische Herrschaft sei vorteilhaft. Meist ist das aber nicht so – und ganz bestimmt nicht auf lange Sicht. Autoritäre Regime ermöglichen in der Regel Ausbeutung und Ausgrenzung. Entwicklungsdiktaturen sind die Ausnahmen, nicht die Norm.
Buch
Mahbubani, K., 2018: Has the west lost it? A provocation. London: Allen Lane.