Kultur-Spezial

Leben im Land der anderen

In ihrem Roman „Das Land der Anderen“ erzählt die junge französisch-marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani die Geschichte der Elsässerin Mathilde und ihres Mannes Amine im turbulenten Nachkriegsjahrzehnt in Marokko und zeigt die Schwierigkeiten auf, die aus den kulturellen Unterschieden entstehen. Dieser Beitrag ist der zweite unseres diesjährigen Kultur-Spezialprogramms mit Rezensionen künstlerischer Werke mit entwicklungspolitischer Relevanz.
Altstadt von Meknès. picture-alliance / DUMONT Bildarchiv / Michael Riehle Altstadt von Meknès.

Die junge Französin Mathilde lernt ihren Mann Amine 1944 anlässlich der Feierlichkeiten zur Befreiung des Elsass durch die französische Armee kennen. Der gut aussehende Offizier ist einer der rund 35 000 marokkanischen Soldaten, die an der Seite der Franzosen gegen die deutsche Besatzung gekämpft haben. Die beiden heiraten. Froh, der Enge des bürgerlichen Elternhauses im Elsass entfliehen zu können, und in Erwartung eines völlig anderen, exotischen Lebens geht die abenteuerlustige Mathilde mit Amine nach Marokko. Dort hat er von seinem Vater ein Stück Land geerbt, auf dem die beiden eine Farm mit Orangenbäumen, Wein und Getreide aufbauen und eine Familien gründen wollen.

Übergangsweise lebt das Paar bei Amines Mutter und den Geschwistern in der Medina von Meknès. Die Stadt ist damals zweigeteilt. Die marokkanische Bevölkerung so wie Amines Mutter lebt im engen Gassengewirr der Altstadt. Die französischen Kolonialisten hingegen wohnen in schicken Häusern in der modernen Neustadt.

Auch das Leben auf der Farm hat wenig mit Mathildes abenteuerlichen Träumereien zu tun. Amine versucht unter Mühsal ein karges Stück Land im Hinterland von Meknès in fruchtbaren Boden zu verwandeln. In ihren Briefen an ihre Schwester Irène und ihren Vater Georges zu Hause schildert Mathilde ihr Leben hingegen als aufregendes Abenteuer, um die beiden zu beeindrucken.

Ihr fällt es schwer, sich an die kulturellen Gepflogenheiten zu gewöhnen. Zwar gelten für sie als eingewanderte Französin nicht die strengen Regeln der marokkanischen Gesellschaft, sie fährt Auto, schickt ihre Tochter auf eine christliche Schule, bewegt sich frei durch die Stadt. Doch, verheiratet mit einem Einheimischen, wird sie von der französischen Kolonialgesellschaft verspottet. Gleichzeitig entwickelt sich Amine, zerrissen zwischen unterschiedlichen Rollenerwartungen, immer mehr zum tyrannischen Patriarchen, der die Gesetze und Tabus der traditionellen marokkanischen Gesellschaft einfordert. Mathilde wird schnell klar, dass sie sich den rigiden Moralvorstellungen beugen soll. „So ist das eben hier“, weist er sie brüsk zurück, als sie sich über Ungerechtigkeiten aufregt.

Das ungleiche Paar stößt sowohl in der marokkanischen Bevölkerung als auch in der französischen Kolonialgesellschaft auf Ablehnung. Selbst als Mathilde sich um die gesundheitliche Versorgung der armen Bauern aus dem Umland kümmert und langsam deren Vertrauen gewinnt, wird klar, dass sie immer eine Fremde bleiben wird. Sie und Amine gehören nirgends dazu. Den Demütigungen und dem Rassismus sind auch ihre Kinder ausgesetzt. Ihre Tochter Aïcha wird von ihren französischen Klassenkameradinnen ausgegrenzt. Als sie sie dennoch, von Mathilde gedrängt, zu ihrem Geburtstag einlädt, kommt es zu einer demütigenden Szene, als eines der Mädchen verlangt, vom „Chauffeur“ (Amine) nach Hause gebracht werden zu werden – und Amine nicht widerspricht.

Politisch ringt Marokko in den Nachkriegsjahren um seine Unabhängigkeit von Frankreich. Es kommt zu Gewalt von beiden Seiten, zu Anschlägen auf Einrichtungen der Protektoratsbehörden und auf Höfe französischer Grundbesitze. Mathilde und Amine finden sich zwischen den französisch-arabischen Fronten wieder. Marokkanischen Nationalisten ist Amine suspekt, weil er in der Armee des Feindes gedient hat. Als Aïcha ihren Vater fragt, ob sie zu den Guten oder Bösen gehören, verweist er auf ihren „Zitrangenbaum“ – einen Orangenbaum, auf den er aus Spaß für Aïcha einen Zitronenzweig gepfropft hatte: „Wir sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange. Wir gehören zu keiner Seite!“

Der Roman ist ein Mosaik aus Figuren und Schicksalen, er lebt von seiner Vielstimmigkeit: Da gibt es neben der christlichen, gebildeten Französin Mathilde und ihrem marokkanischen Ehemann Amine, noch seine Mutter Mouilala, eine traditionelle Muslimin, die ihre Söhne bedient wie eine Magd, und Mourad, ein ehemaliger Kampfgenosse Amines, sowie den Gynäkologen Dragan, ein ungarischer Jude, der auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in Marokko gelandet ist.

Schlüsselfiguren sind Selma, die jugendliche Schwägerin Mathildes, die auf Konventionen pfeift und offen gegen die patriarchalische Gewalt ihres älteren Bruders aufbegehrt, und Omar, der stets im Schatten seines größeren Bruders Amine stand und im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung zum radikalen Nationalisten wird. Slimani erzählt aus den Augen der jeweiligen Person, ohne zu bewerten oder zu verurteilen.

Slimani selbst kam 1981 im marokkanischen Rabat zur Welt und wuchs in einer begüterten Familie auf, in der Französisch gesprochen wurde. Ihre Mutter war Ärztin, ihr Vater Ökonom, von 1977 bis 1979 sogar Wirtschaftsminister des Lands. 1999 ging Slimani nach Paris an die renommierte Politikhochschule Sciences Po und arbeitet seit 2008 als Journalistin für das Wochenmagazin „Jeune Afrique“. Für ihren Roman „Chanson douce“ („Dann schlaf auch du“) wurde sie 2016 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Den Posten als Kulturministerin, den ihr Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2017 anbot, lehnte sie ab, um weiter als Schriftstellerin tätig sein zu können. In einem Interview anlässlich des Erscheinens ihres Romans „Das Land der Anderen“ erklärt sie, sie habe immer das Gefühl, im Land der Anderen zu leben, egal, ob sie in Marokko oder Frankreich sei.

Der Roman ist als erster Teil einer Trilogie konzipiert, in der Slimani die Geschichte Marokkos von 1945 bis 2015 aufrollen will. Dabei orientiert sie sich an der eigenen Familiengeschichte. So sind Mathilde und Amine inspiriert von ihren eigenen Großeltern mütterlicherseits. Im zweiten Band der Trilogie will Slimani die Geschichte ihrer Mutter erzählen.  


Buch
Slimani, L., 2021: Das Land der Anderen. München, Luchterhand.
Original: „Le pays des autres“, erschienen 2020 bei Gallimard in Paris


Dagmar Wolf ist Redaktionsassistentin bei E+Z/D+C.
euz.editor@dandc.eu

 

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