Editorial
Bedrohte Küsten
Auch nicht-städtische Siedlungen befinden sich oft in Meeresnähe. UN-Daten zufolge wohnen rund 40 Prozent der Weltbevölkerung nicht weiter als 100 Kilometer von der Küste entfernt. Historisch leben viele Menschen dort von Landwirtschaft, Fischfang und Handel.
Zunehmende Bevölkerungs- und Besiedlungsdichte bedeutet aber, dass der Platz für Ackerbau geringer wird. Umweltverschmutzung und Überfischung, die auch von internationalen Fangschiffen betrieben wird, reduzieren derweil maritime Ressourcen. Die traditionellen Lebensgrundlagen der Menschen sind mithin nur noch eingeschränkt vorhanden.
Wer direkt an der Küste lebt, ist zudem besonderen Bedrohungen ausgesetzt. Unwetter, Stürme und Fluten gibt es seit jeher; wegen des Klimawandels nehmen aber Häufigkeit und Wucht von Extremwetterlagen zu. Überflutete Böden versalzen, sodass die Landwirtschaft beeinträchtigt und mancherorts sogar unmöglich wird. Auch das Grundwasser ist betroffen, was mit dem steigenden Meeresspiegel zusammenhängt. Wird es zu salzig, ist es für Mensch und Tier ungenießbar.
Die Infrastruktur muss entsprechend verbessert und wetterfest gemacht werden. Das gilt für Verkehrswege und Versorgungssysteme. Nötig sind zudem Deiche, Uferbefestigungen und präventive Bepflanzung. Der Katastrophenschutz erfordert Sturmbunker, Frühwarnsystem und Notfallpläne. Die Verantwortlichen stehen also vor großen Aufgaben.
Und das gilt nicht nur im ländlichen Raum, denn die städtischen Zentren wachsen rasend schnell – besonders in Afrika. Urbane Transportsysteme, Strom- und Wasserversorgung, Kanalisation und Müllentsorgung sind überfordert. Bildungs- und Gesundheitswesen müssen ausgebaut, gute Arbeitsplätze geschaffen werden. Um die vielfältigen Probleme in den Griff zu bekommen, sind Sachverstand, Geld und solide Amtsführung nötig. Es geht um die typischen Aufgaben der Entwicklungspolitik: Armutsbekämpfung, Umweltschutz, Wirtschaftsförderung, Auf- und Ausbau von Infrastruktur und Institutionen. Sie stellen sich in Küstenregionen mit besonderer Dringlichkeit.
Die Industrieländer dürfen sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Das ist nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit. Reiche Nationen haben ein Eigeninteresse daran, dass Gesellschaften stabil und friedlich sind. Zudem profitiert ihre Wirtschaft vom Handel mit starken Volkswirtschaften mehr als von dem mit armen. Obendrein sind sie die Hauptverursacher des Klimawandels. Sie dürfen die Leidtragenden nicht im Stich lassen.
Bislang wird der Begriff „Klimaflüchtling“ nicht offiziell anerkannt. Das ist realitätsfern. Die Abwanderung aus Küstenregionen hat längst begonnen. In zahlreichen Erdregionen werden Landstriche durch schleichende Veränderungen wie extreme Hitze, langanhaltende Dürren oder Versalzung der Küstenregionen dauerhaft unbewohnbar. Die Weltgemeinschaft muss sich diesem Problem stellen – und wäre gut beraten, präventiv zu handeln. Dafür ist Klimaschutz ebenso nötig wie effektive Entwicklungszusammenarbeit: Denn je besser es gelingt, Lebenschancen an der Küste zu erhalten und zu verbessern, umso weniger Menschen werden abwandern.