Kriminalität
Mit Kunst gegen Gewalt
Von Cletus Gregor Barié
„Früher war ich Mitglied einer Gang“, erzählt Pitu, Hip-Hop-Sänger aus der kolumbianischen Stadt Manizales. „Doch darüber rede ich nicht gerne. Es klingt zu sehr nach Resozialisierung und Reue.“ Pitu und ein weiterer Sänger der Gruppe „Gran Blanco“ sitzen nach einer Show verschwitzt auf dem Podium. „Gerade auf Jugendliche aus Stadtvierteln mit hoher Gewalt übt diese Band eine magische Anziehungskraft aus, weil sie neue Perspektiven vorlebt“, meint Jhon Fredy Diaz von der städtischen Kulturabteilung. Diese kooperiert bei der Jugendarbeit mit der erfolgreichen Band.
Kolumbien ist eines der gewalttätigsten Länder der Erde. Beim Global Peace Index steht es weit unten im Ranking, zwischen Jemen und Zimbabwe, auf Platz 139 von 153. Eine über Jahrzehnte gewachsene Gewaltkultur sorgt für fatale Mordraten und 5,2 Millionen intern Vertriebene. Massive Menschenrechtsverletzungen besonders an Indigenen sowie starke soziale Ungleichheit tun ihr Übriges. In der 6,8-Millionen-Metropole Bogotá wurden 2010 über 1700 Menschen ermordet. Zum Vergleich: In ganz Deutschland wurden im gleichen Jahr 814 Mordopfer registriert. „Die Kolumbianer lösen ihre Konflikte immer öfter mit Bleikugeln, geballter Faust und abgebrochenem Flaschenhals“, sorgt sich das Wochenmagazin La Semana. „Was ist los mit uns?“
Die Guerilla, darunter vor allem die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC), sowie die paramilitärischen (zum Teil demobilisierten) Gruppen sind weiterhin in Randgebieten präsent und haben sich auch in staatliche Institutionen eingeschlichen. Selbst der politische Hardliner Álvaro Uribe konnte in seiner doppelten Amtszeit als Präsident Kolumbiens von 2002 bis 2010 den versprochenen militärischen Sieg nicht herbeiführen. Nun steht er selbst unter massivem Korruptionsverdacht. Sein Nachfolger Juan Manuel Santos zeigt derweil stärkeres Engagement für Menschenrechte: Ein Gesetz vom Juni 2011 sieht umfassende Entschädigungen für etwa sechs Millionen Gewaltopfer und Vertriebene vor, auch Land sollen sie zurückbekommen. Experten für Transitionsprozesse („Transitional Justice“) jedoch sind skeptisch. Dies sind klassische Maßnahmen für Post-Konflikt-Situationen – wie können sie ohne Risiko für die Opfer umgesetzt werden, wenn der bewaffnete Konflikt noch andauert?
„Unsere Stimme darf nicht schweigen“
„Convivencia“, friedliches Zusammenleben, ist das Schlagwort vieler lokaler Kunstinitiativen, die mit kreativen Methoden das Schreckgespenst der Unsicherheit und Gewalt aus den Stadtvierteln vertreiben wollen. Auf der nationalen Friedensmesse Expopaz in Bogotá im Oktober 2010 stellten sich 156 lokale Gruppen vor – von Kunsthandwerkern, die in Stickarbeiten ihre Erinnerungen festhalten, bis zu Theatermachern, die die Geschichte eines Stadtviertels aufarbeiten.
„Ich habe die beeindruckende Wirkung von kultureller Arbeit mehrfach miterlebt“, sagt Pilar Otero von der staatlichen Koordinationsstelle für internationale Zusammenarbeit. „Zum Beispiel bei dem Projekt Theater für Frieden in Tumaco, wo Jugendliche mit Laientheater zur öffentlichen Aufarbeitung einer traumatischen Vergangenheit beitragen.“ Neben einem großen Netzwerk aus Kulturakteuren setzen auch staatliche Stellen mittlerweile auf künstlerische Mittel in der Friedensförderung – beispielsweise bei der Rückführung von Vertriebenen und bei der Trauma-Arbeit.
Vielleicht eignet sich ja das Land des Literatur-Nobelpreisträgers Gabriel García Márquez und der Popsängerin Shakira besonders, um die Wirkung von Kunst auf Gewalt zu testen. Wie Bruno Moro, Resident Representative der UNDP, kürzlich feststellte, hat „Kolumbien wahrscheinlich die meisten Friedensinitiativen weltweit“. Doch Otero bedauert, dass die Entwicklungsarbeit noch nicht begriffen habe, wie wichtig dabei Kultur sei. Beispielsweise gebe es bis heute kein Projekt, das die weitverbreitete Rechtsmissachtung thematisiere. „Auch staatliche Maßnahmen haben traditionell eher einen normativen Ansatz, keinen kulturellen.“
Außerdem stoßen die künstlerischen Initiativen auch beizeiten auf Kritik. „Es ist eine Illusion zu glauben, dass Kunst eine balsamische Wirkung auf Gewalt hat“, wettert der bekannte Kolumnist Antonio Caballero. „Im Gegenteil: Die Musik ist ursprünglich dazu da, die Menschen zum Krieg aufzuhetzen.“ Auch der Ethnologe Fabian Sanabria warnt vor überzogenen Erwartungen: „Seien wir realistisch: Wir können über Kunst niemanden erlösen, nicht einmal uns selbst!“
Carlos Fernández von der Jesuitenstiftung CINEP will künstlerische Mittel in der Friedensförderung dennoch nicht missen: Gerade um Gewalt aufzuarbeiten, Tabu-Themen in der Öffentlichkeit anzusprechen oder jugendliche Subkulturen zu stärken, seien diese Methoden unabdingbar. „Dadurch werden Feindbilder und Schwarzweißdenken in einem hochpolarisierten Kontext abgebaut“, fasst er erste Evaluierungen zusammen.
Der ehemalige Bürgermeister von Bogotá, Antanas Mockus, konnte in seiner Amtszeit über eine aktive Kulturpolitik sogar die Gewaltrate senken. Er ist überzeugt, dass die Bürger durch Kunst und Kultur ihr Repertoire für gewaltfreie Kommunikation erweitern, vorausgesetzt, dass sie begleitend auch in andere Veränderungsprozesse integriert werden.
Eine Auffassung, die auch international verbreitet ist. So heißt es in einer Veröffentlichung der Brandeis University in Massachusetts: „Moderne Konflikte sind nicht über rationale Prozesse veränderbar, sie erfordern Ausdrucksformen, die das Paradox einschließen und Gedanken und Gefühle zum Ausdruck bringen, die nicht leicht verbalisiert werden können.“ Die Hip-Hop-Gruppe Rastros aus Bogotá singt: „Es ist eine Zeit der Angst, der Grausamkeit, eine Zeit, in der unsere Stimme nicht schweigen darf.“