Nachhaltige Lieferketten
„Das Gesetz würde entkernt, bevor es überhaupt in Kraft tritt“

Es sollte ein großer Schritt für mehr internationale Verantwortung sein: Im Mai 2024 verabschiedete die Europäische Union die „Richtlinie über die Sorgfaltspflicht von Unternehmen im Bereich der Nachhaltigkeit“. Kurz: das EU-Lieferkettengesetz. Europäische Unternehmen sollten in Zukunft mehr Verantwortung dafür übernehmen, wie ihre Produkte und deren Bestandteile international hergestellt werden – und unter welchen Umständen Menschen dafür arbeiten. Doch auch nach dem Beschluss sorgt das Gesetz noch für Debatten. Anfang April 2025 wurde die Einführung nun um ein Jahr verschoben, um Zeit für inhaltliche Änderungen zu schaffen.
Herr Paasch, 2024 haben sie in einem Beitrag für E+Z geschrieben, wie wichtig die EU-Lieferkettenrichtlinie ist – und davor gewarnt, dass sie abgeschwächt werden könnte. Jetzt plant die EU-Kommission tatsächlich erhebliche Änderungen, noch bevor das Gesetz überhaupt zur Anwendung kommt. Was genau soll angepasst werden?
Die Kommission hat am 26. Februar in der neuen sogenannten Omnibus-Verordnung vorgeschlagen, die Richtlinie in entscheidenden Punkten abzuschwächen. Die Sorgfaltspflichten sollen dabei zunächst nur noch für Tochtergesellschaften und direkte Zulieferer gelten, die häufig in der EU angesiedelt sind und wo die menschenrechtlichen Risiken am geringsten sind. Mit indirekten Geschäftspartnern müssten sie sich nur befassen, wenn ihnen bereits plausible Hinweise auf Menschenrechts- oder Umweltprobleme vorliegen. Dann ist es aber oft schon zu spät.
Das heißt, es wird nicht dort angesetzt, wo es am nötigsten wäre?
Genau. Denn die meisten Schäden entstehen am Anfang der Kette, etwa im Bergbau oder auf Plantagen im Globalen Süden. Genau diese Risikobereiche würden jetzt erstmal ausgeblendet. Hinzu kommt, dass die Kommission die zivilrechtliche Haftungsregel streichen will. Das bedeutet, dass Menschen in Ländern des Globalen Südens kaum Chancen auf Schadensersatz hätten, wenn europäische Unternehmen gegen Sorgfaltspflichten verstoßen und dadurch Schäden verursachen. Gleichzeitig sollen Bußgelder bei Verstößen nicht mehr wie ursprünglich geplant an den Unternehmensumsatz gekoppelt werden. Für große Konzerne wird es dann deutlich billiger und somit noch einfacher, Strafen einfach als „Betriebskosten“ abzuhaken, statt wirklich etwas an ihren Praktiken zu ändern. Und auch beim Klimaschutz soll das Gesetz abgeschwächt werden: Unternehmen müssten zwar noch Pläne erstellen, um sich an das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens zu halten, aber wären nicht mehr verpflichtet, sie auch umzusetzen. Das Gesetz würde entkernt, bevor es überhaupt in Kraft tritt.
Was würde all das in der Summe für Menschen in Ländern des globalen Südens bedeuten?
Es würde bedeuten, dass Menschen, die unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden, noch weniger Möglichkeiten haben, sich zu wehren. Europäische Unternehmen müssten kaum noch Verantwortung übernehmen.
Was könnte denn das Lieferkettengesetz in seiner jetzigen Form bewirken: Könnte es die Bedingungen wirklich verändern oder nur Schadenersatz ermöglichen?
Ein gutes Beispiel ist der verheerende Brand in der Textilfabrik Ali Enterprises in Pakistan 2012. Damals sind mehr als 250 Menschen gestorben, weil Notausgänge verriegelt waren und es keinen Brandschutz gab. Hauptabnehmer war der deutsche Textildiscounter KiK. Die Angehörigen der Opfer versuchten, in Deutschland Schadensersatz einzuklagen, wurden aber wegen kurzer Verjährungsfristen im pakistanischen Recht abgewiesen. Weil die europäischen Abnehmer kaum Verpflichtungen haben, wären die Chancen ohnehin sehr gering gewesen. Die EU-Lieferkettenrichtlinie würde europäische Unternehmen verpflichten, etwa Risiken beim Brandschutz zu untersuchen und dagegen vorzugehen. Mit solchen Maßnahmen hätte die Katastrophe verhindert oder begrenzt werden können. Und wenn die Maßnahmen nicht umgesetzt und so Menschenrechte verletzt oder Schäden verursacht werden, könnten Betroffene oder Hinterbliebene vor Zivilgerichten in EU-Mitgliedstaaten Schadenersatz einklagen. Das ist der große Vorteil der EU-Richtlinie gegenüber dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das keine zivilrechtliche Haftungsregel vorsieht.
Es geht also nicht nur um Wiedergutmachung, sondern vor allem um Prävention?
Genau. Wenn Unternehmen wüssten, dass sie vor europäischen Gerichten haftbar gemacht werden können, hätten sie einen klaren Anreiz, für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen und nicht erst zu reagieren, wenn es zu spät ist. Wenn die Sorgfaltspflicht nun mit den neuen Plänen auf die direkten Zulieferer beschränkt wird, wird genau das Gegenteil passieren. Im schlimmsten Fall hätten Unternehmen sogar einen Anreiz wegzuschauen, um keine Hinweise zu erhalten, die sie zu Vorbeugemaßnahmen verpflichten würden.
Als Hauptgrund für die Abschwächung wird immer wieder der Bürokratieaufwand genannt.
Dieser Diskurs ist meiner Wahrnehmung nach leider klar von Wirtschaftsverbänden befeuert und bewusst überhöht. Natürlich entsteht bei der Umsetzung von Gesetzen auch ein bürokratischer Aufwand. Ohne Berichterstattung ist sowas nicht umzusetzen. Unternehmensberichte sind wichtig, damit Behörden und die Zivilgesellschaft die Arbeit der Unternehmen auch überprüfen können. Aber sie sind kein „Bürokratiemonster“, wie sie von großen Wirtschaftsverbänden in Deutschland bezeichnet werden. Die Sorgfaltspflichten würden ohnehin nur für sehr große Unternehmen ab 1000 Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz von 450 Millionen Euro gelten. Schaut man sich die einzige verfügbare repräsentative Untersuchung in Deutschland an, zeigt sich sogar, dass nur sieben Prozent der deutschen Unternehmen gesetzliche Sorgfaltspflichten ablehnen. 80 Prozent geben an, sie bereits ganz oder teilweise umzusetzen. Es gibt keinerlei empirischen Beleg für die Behauptung der EU-Kommission, die Lieferkettenrichtlinie und andere Nachhaltigkeitsregeln würden die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen gefährden.
Die Untersuchung gilt aber vor allem für das deutsche Lieferkettengesetz, das seit 2023 stufenweise eingeführt wird. Welche Rolle spielt Deutschland nun bei der Neuformulierung des EU-Lieferkettengesetzes?
Damit die Omnibus-Verordnung durchkommt, muss sie mit einer qualifizierten Mehrheit im EU-Rat beschlossen werden, also zwei Dritteln der Regierungen mit zwei Dritteln Bevölkerungsanteil. Das ist eine hohe Hürde. Die französische und spanische Regierung sprechen sich zum Beispiel klar gegen eine Streichung der zivilrechtlichen Haftungsregel aus. Die geschäftsführende deutsche Bundesregierung hat dazu auch Vorbehalte angemeldet. Wie sich die künftige Bundesregierung positionieren wird, bleibt abzuwarten. Im Koalitionsvertrag hat sie angekündigt, das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz durch ein neues Gesetz zu ersetzen, das die EU-Lieferkettenrichtlinie „bürokratiearm“ und „vollzugsfreundlich“ umsetzen soll. Zugleich unterstützt sie das „Omnibusverfahren“ und will „überbordende Regulierungen“ verhindern. Was das im Einzelnen heißen soll, bleibt jedoch offen und damit Gegenstand schwarz-roter Verhandlungen. Im Europäischen Parlament wehren sich Sozialdemokraten und Grüne gegen die Abschwächung der Lieferkettenrichtlinie, auch wenn sie jüngst, am 3. April 2025, die Verschiebung der Anwendung um ein Jahr mit beschlossen haben. Immerhin hat die Europäische Volkspartei im Vorfeld dieser Abstimmung zugesagt, bei den inhaltlichen Änderungen der Lieferkettenrichtlinie einen Kompromiss mit Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen zu suchen, statt einen Pakt mit den Rechtsaußenfraktionen einzugehen. Bleibt zu hoffen, dass diese „Brandmauer“ hält und die Wirksamkeit der Lieferkettenrichtlinie nicht eingeschränkt wird.
LINK
Verband der Vereine Creditreform e. V., Handelsblatt Research Institute, 2024: Sorgfaltspflichten in der Lieferkette – Wo steht die deutsche Wirtschaft? https://research.handelsblatt.com/wp-content/uploads/2024/10/2024_HRI_Creditreform_LKSP.pdf
Armin Paasch ist Referent für Verantwortliches Wirtschaften und Menschenrechte beim bischöflichen Hilfswerk Misereor.
armin.paasch@misereor.de