Leichtathletik
„Sieger geben nicht auf“
Warum ist Jamaica in der Leichtathletik, vor allem bei Läufern, so stark?
Fitness hat mit Ernährung zu tun. Die jamaikanische Kost enthält gelbe Yamswurzel, mit stabilen, energiereichen Kohlenhydraten. Und die Kinder sind fit, sie fahren selten mit dem Bus – meist, weil sie kein Geld dafür haben. Um zur Schule zu gelangen, müssen sie die Hügel rauf und runter laufen. Im ländlichen Raum gehen sie auch nicht, sie rennen. In den Dörfern wissen alle, welches Kind ein guter Läufer ist.
Wann entdecken Profifunktionäre junge Talente?
Meist schon früh, in der Grundschule, bevor die Kinder elf oder 12 Jahre alt sind. Alle Schulen veranstalten Wettkämpfe, auch regionale. Die Konkurrenz ist hart; die Schulen schicken ihre besten Läufer. Viele Leute kommen und sehen zu. Hier werden die Talente entdeckt.
Welche Rolle spielen die Schulen?
Die Schulen sind wichtig, weil bei Schulsport-Veranstaltungen die talentierten Kinder auffallen. Außerdem hilft es, dass die Schulen gute Läufer zu richtigen Wettkämpfen schicken. Aber die Geografie ist ebenfalls entscheidend. Schulen in armen Gegenden können ihre Schüler nicht unterstützen, nicht mal mit Sportschuhen. Die Schulen brauchen Sponsoren; manche betreiben Fundraising. Trainer aus reicheren Gegenden werben talentierte Läufer ab, etwa indem sie Eltern versprechen, dass sie von den Schulgebühren befreit werden, damit sie das Kind auf die betreffende Schule schicken. Kleine Schulen vom Lande verlieren so ihre Talente.
Wie finden Sie in einer Gruppe Kinder vom Land heraus, wer ein talentierter Läufer ist?
Nun, dabei geht es nicht nur um Wettkampf-Ergebnisse. Es ist auch wichtig, wer lange durchhalten wird. Ich schaue mir erst ihre Körper an – in der Regel haben Sprinter einen hohen Hintern, und Langstreckenläufer einen flachen Hintern. Manche sind einfach geborene Athleten. Wenn man ein solches Talent identifiziert, muss man es aufbauen. Oft weiß ich, dass ich einen vielversprechenden Läufer oder Läuferin gefunden habe, aber es gibt keine Trainer, um ihn oder sie zu unterstützen und weiterzubringen. Geduld und Willenskraft müssen auch trainiert werden. Kinder aus armen Familien und ländliche Schulen bekommen nicht genug Unterstützung.
Müssen junge Athleten ins Ausland gehen, um professionell zu trainieren?
Diese Möglichkeit hängt von ihren schulischen Leistungen ab. Wenn jemand nur gut in Sport ist, reicht das nicht für ein Stipendium. Aber wenn ein junger Läufer auch auf akademischer Ebene Leistung bringt, dann kann er oder sie im Ausland trainieren, meist in den USA. Manche gehen nach der High School ab, weil ihre Noten nicht gut genug für die Universität sind und sie kein Sportstipendium bekommen können. Als Leichtathletik-Trainer sage ich den Jugendlichen in meinem Team immer, dass sie Sport und Schule ausbalancieren müssen. Ich möchte, dass die Kinder sich in der Hauptsache auf ihre schulischen Leistungen konzentrieren.
Was erhofft sich der Nachwuchs?
Sie wollen von einem Talentscout entdeckt werden und der nächste Usain Bolt werden! Ich sage ihnen immer: Du brauchst harte Arbeit, Selbstdisziplin, Zeit und Engagement. Um zu gewinnen, darfst du nie aufgeben. Aber nicht jeder wird der nächste Usain Bolt. Dieser jamaikanische Sprinter hat sechs Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen gewonnen, 11 Weltmeisterschaften, und er hält den Weltrekord im 100-Meter-Sprint, in 200 Metern und in 100 Meter Staffel. Er ist auch der bestbezahlteste Sportler in der Geschichte der Leichtathletik.
Was geschieht mit jungen Athleten, die nicht den erhofften Durchbruch haben, die aber die Schule für die Sportkarriere aufgegeben haben?
Die Männer gehen meist zur Polizei oder dem Militär, und die Frauen werden schwanger. Auf der positiven Seite jedoch bringen die Mädchen oft bessere akademische Leistungen, so dass sie bessere Chancen haben, ein Stipendium für die Universität zu bekommen. Shelly-Ann Fraser-Pryce, die jamaikanische Olympiasiegerin und Weltmeisterin im 100-Meter-Lauf, hat einen Universitätsabschluss und betreibt ihr eigenes Geschäft, einen Friseurladen. Demgegenüber hat Usain Bolt keinen Universitätsabschluss, aber er kann von seinen Sponsoren leben.
Wenn ein junger Athlet oder Athletin als förderungswürdig angesehen wird, welche Institutionen übernehmen dies?
Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder werden die Neulinge von einer Privatfirma gesponsort, oder sie bekommen Förderung durch die staatliche Organisation „Jamaica Athletics Administrative Association“ (JAAA), die die jamaikanische Leichtathletik betreut. Die JAAA kümmert sich um Athleten auf nationaler Ebene. Das Problem dabei ist, dass sie kein Geld haben, um junge Talente am Anfang ihrer Karriere zu fördern.
Gibt es in Jamaika Sportakademien?
Ja, aber sie unterstützen nicht junge Talente, sondern geben nur denjenigen Athleten ein Stipendium, die das Land auf internationalen Wettkämpfen vertreten. Die Sportakademien stellen unseren Top-Athleten Trikots und Sportgeräte, Spikes, Verpflegung, Hotelzimmer und Reisekosten.
Gibt es gute Trainingsmöglichkeiten für Leichtathletik in Jamaika?
Die University of Technology in der Hauptstadt Kingston hat einen guten Athletik-Club. Und es gibt den Racers Track Club; Usain Bolt hat dort trainiert. Kingston mit seinen Stadien ist am Besten für Athleten, weil sie auf richtigen Pisten trainieren können. Es gibt auch noch Catherine Hall Stadium in Montego Bay im Norden der Insel. Überall sonst sind die Laufstrecken uneben und voller Löcher. Wir brauchen dringend mehr Sportanlagen in den ländlichen Gemeinden. Wir brauchen auch mehr Community Center mit Spielfeldern für Basketball und so weiter. So könnten Kinder frühzeitig herausfinden, welcher Sport ihnen liegt. Heutzutage werden mache talentierte Sportler erst an der Universität entdeckt, und das ist ein bisschen spät für eine gute Karriere.
Wer verdient daran, wenn ein jamaikanischer Athlet einen internationalen Wettkampf gewinnt?
Hauptsächlich die Manager. Auf dem Top-Level leben auch die Athleten ein gutes Leben, aber nur, wenn sie im Ausland sind. Für alle anderen, besonders für junge Leute, sieht es eher düster aus. Die meisten Athleten haben zu wenig Geld. Wenn sie keine Top-Athleten sind, bekommen sie kein Sponsoring von den Clubs. Manchmal müssen Sportler ihre Jobs aufgeben, um zu internationalen Wettkämpfen zu fahren, aber wenn sie wiederkommen, haben sie möglicherweise keine Arbeitsstelle mehr.
Wenn Jamaikaner mehr Möglichkeiten hätten, andere Sportarten auszuüben wie beispielsweise Tennis, wären sie auch so gut darin?
Wahrscheinlich. Laufen ist vergleichsweise billig, man braucht nur Laufstrecken und Schuhe. Aber kaum ein Jamaikaner ist herausragend in anderen Sportarten, weil wir die Infrastruktur dafür nicht haben. Selbst wenn man ein exzellenter Schwimmer im Meer ist, braucht man Zugang zu einem richtigen Schwimmbecken, um für Wettkämpfe zu trainieren. Für alle Sportarten, für die man spezielle Ausrüstung und Geräte benötigt – zum Beispiel Tennis oder Radfahren –, braucht man Sponsoren, aber in Jamaika unterstützen die meisten Firmen nur die Leichtathletik.
Was kann auf internationaler Ebene für den jamaikanischen Sport getan werden?
Meines Erachtens wären Austauschprogramme zwischen armen jamaikanischen High Schools aus ländlichen Gebieten mit Schulen im Ausland äußerst hilfreich, etwa gemeinsame Workshops oder Schüleraustausch. Dies würde der Motivation einen Schub geben, und die Kinder würden neue Erfahrungen machen. Generell sollten vielversprechende junge Menschen Verträge mit ausländischen Clubs bekommen, so dass sie woanders trainieren und Erfahrungen machen könnten. Internationale Sponsoren könnten mehr in den jamaikanischen Sport investieren, nicht nur in Leichtathletik, sondern auch in andere Disziplinen.
Everton Leslie ist Sportlehrer und Leichtathletik-Trainer in St.Andrew, Jamaika. Er trainiert den Leichtathletik-Nachwuchs aus dem östlichen Jamaika.
evertles64@yahoo.ca
Links:
Jamaica Athletics Administrative Association (JAAA):
http://www.trackandfieldjm.com/