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Sozialpsychologie

Kollektives Trauma

Traumatische Ereignisse prägen das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft. Jede neue Krise holt alte Verletzungen wieder an die Oberfläche. Frühere Erfahrungen bieten Menschen aber auch das Rüstzeug, mit den neuen Herausforderungen besser umzugehen. Argentinien ist ein Beispiel dafür.
Aktivisten von H.I.J.O.S erinnern im März 2011 in Buenos Aires an die Menschen, die während der Militärdiktatur in Argentinien verschwanden. picture-alliance/dpa Aktivisten von H.I.J.O.S erinnern im März 2011 in Buenos Aires an die Menschen, die während der Militärdiktatur in Argentinien verschwanden.

Krisen sind nicht nur ein aktuelles Problem, sondern sie erinnern auch an vergangene Krisen. Während der Corona-Pandemie werden die Erinnerungen an die Pest oder die Spanische Grippe wach. In der Wirtschaftskrise denken die Menschen daran, wie sie frühere ökonomische Engpässe gemeistert haben. Und wenn bewaffnetes Militär auf den Straßen patrouilliert – und sei es auch nur, um zu kontrollieren, ob die Corona-Ausgangssperren eingehalten werden –, dann wird denjenigen mulmig, die schon einmal eine Diktatur durchlebt haben.

Seuchen, Wirtschaftskrisen oder Diktaturen sind keine individuellen Erlebnisse, sondern eine gemeinsame Erfahrung aller Menschen einer Gesellschaft, wenn auch mit Unterschieden: Nicht jeder erkrankt bei einer Epidemie, manche haben viel Geld gespart, und andere sind bei Arbeitslosigkeit sofort am Rande des Hungers. Und in einer Diktatur gibt es Täter, Mitläufer, Widerstandskämpfer und Opfer – daraus folgen sehr unterschiedliche Wahrnehmungen der gleichen Situation.


9/11 als kollektives Trauma

In der Sozialpsychologie wird untersucht, wie sich ein traumatisches Ereignis, das viele Menschen gleichzeitig betrifft, im kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft manifestiert. Ein bekanntes Beispiel sind die Terroranschläge in den USA am 11. September 2001, kurz 9/11. In allen Weltregionen ist das Bild der explodierenden Flugzeuge in den Hochhäusern des World Trade Center in New York präsent, auch wenn die politischen Konsequenzen dieser Attacken etwa in der arabischen Welt ganz anders als im Westen spürbar waren.

In ihrer Forschung zu kollektiven Traumata bezeichnet die Psychologin Angela Kühner 9/11 als ein „kollektiv relevantes traumatisches Referenzereignis“. Sie und andere Wissenschaftler sprechen allerdings weniger von einem kollektiven Trauma, sondern von einer „kollektiven Verletzung des sozialen Gewebes“, das heißt, ein schlimmes Ereignis verändert eine Gesellschaft nachhaltig. Davon sind alle Menschen betroffen, wenn auch in unterschiedlichem Maß.

Eine typische Reaktion auf ein solches Ereignis ist die Solidarisierung: Das Kollektiv versucht, gemeinsam mit der Erschütterung fertig zu werden. Gemeinsame Trauerprozesse sind ein probates Mittel dafür. Dies wird jedoch erschwert, wenn Tote nicht begraben werden können, so etwa nach dem 11. September.

Noch schwieriger ist es nach Diktaturen, wie etwa nach der letzten Militärdiktatur in Argentinien: 30 000 Menschen sind zwischen 1976 und 1983 verschleppt und ermordet worden, die „desaparecidos“, die „Verschwundenen“. Doch die Angehörigen konnten die Opfer des sogenannten „schmutzigen Krieges“ nicht begraben; die meisten blieben verschwunden.

Wie viele lateinamerikanische Länder hat Argentinien mehrere Zyklen von traumatischen Ereignissen, Verdrängen und Erinnern hinter sich. Die übergreifendste lateinamerikanische Erfahrung ist die Kolonisation und die Massenausrottung der indigenen Völker – in vielen Ländern, auch in Argentinien, bis heute verschwiegen und verdrängt.

Eine Konstante des 20.Jahrhunderts waren sowohl die Militärputsche als auch die Wirtschaftskrisen. Nach jeder wirtschaftlichen und politischen Krise könne man in der argentinischen Gesellschaft eine Art „Vermeidungs-Verhalten erkennen, also typische Reaktionen auf ein Trauma“, sagt der Neurologe Enrique de Rosa von der argentinischen Ärztevereinigung „Asociación Médica Argentina“. Viele Leute seien nicht mehr an Politik interessiert. „Tagtägliche Mikrotraumata erodieren die psychische Widerstandskraft der Menschen und werden zu einer erlernten Hoffnungslosigkeit. Man hat das Gefühl, egal was man macht, es gibt ja doch keinen Ausweg – das sehen wir oft bei Arbeitslosen“, erklärt de Rosa.

Nach einer Wirtschaftskrise sehnen sich alle Menschen nach Stabilität, nach einer gewaltvollen Periode nach Frieden. Der Wunsch der Opfer nach Gerechtigkeit, nach der Bestrafung der Täter, wird dann oft als Störung dieses neuerlangten Friedens empfunden – sie werden aufgefordert, ihren Ruf nach Strafe einzustellen, nach dem Motto: „Es muss auch mal gut sein.“ Doch das Ende eines Krieges oder einer Diktatur ist noch kein Frieden. Wirklicher Friede ohne Gerechtigkeit ist unmöglich. Alte Konflikte lauern unter der scheinbar ruhigen Oberfläche und können jederzeit wieder aufbrechen.

In dieser Situation gibt es einen Widerstreit von Auseinandersetzung und Abwehr, also zwischen Aussprechen und Verleugnung des Geschehenen. Dabei kommt den Opfern eine besondere Rolle zu. Weil sie sozusagen die personifizierte Erinnerung sind, will man sie ignorieren – die gewaltvolle Vergangenheit soll vergessen werden.

Eine ähnliche Phase durchlief auch Argentinien nach Ende der Militärdiktatur 1983. Anders als in anderen lateinamerikanischen Ländern, die ebenfalls Diktaturen hatten, kam es in Argentinien zu einem Prozess, in dem die Schuldigen benannt und verurteilt wurden.

Unter dem Druck des Militärs wurden die Schuldigen jedoch in den folgenden Jahren nach und nach amnestiert, erst die unteren Ränge, zuletzt selbst die Junta. Daraufhin begannen lokale Menschenrechtsgruppen, auf anderen Wegen die Erinnerung wachzuhalten – gegen große Widerstände. Die Kinder der Verschwundenen gründeten die Organisation H.I.J.O.S („Hijos por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio“ – „Kinder für die Identität und die Gerechtigkeit, gegen das Vergessen und Schweigen“).

Die Mitglieder von H.I.J.O.S. marschierten vor den Wohnungen verurteilter Folterer auf, um die Nachbarn darauf aufmerksam zu machen, neben wem sie wohnten, verlasen per Megaphon die gerichtlich verhängte Strafe und verteilten Flugblätter, auf denen die Verbrechen des betreffenden Militärs oder Polizisten aufgezählt waren.

In der Wissenschaft wird eine gemeinsame soziale Erinnerungspraxis als „absichtsvolles Erinnern“ bezeichnet, dazu gehören beispielsweise Gedenktage. Die Erinnerungspraxis der „Kinder der Verschwundenen“ war unkonventionell, zeigte aber Wirkung: Die Amnestiegesetze wurden nach und nach zurückgenommen. Die Mörder und Folterer mussten zurück ins Gefängnis.

Der niederländische Anthropologe Antonius C. G. M. Robben, Professor an der Universität Utrecht, hat zur Erinnerungspraxis traumatisierter Gesellschaften geforscht, unter anderem in Argentinien. Seiner Ansicht nach wurde durch den Staatsterror während der Diktatur „das Vertrauen der Bürger in den Staat vollkommen zerstört“. Dieses Misstrauen auf allen Seiten, zwischen Staatsorganen, Ex-Militärs und Angehörigen von Verschwundenen, hält weiter an und hindert die argentinische Gesellschaft, mit „ihrer traumatischen Vergangenheit abzuschließen“, meint Robben.


Traumata überwinden

Für den Friedensforscher Johan Galtung ist „Frieden mehr als die Abwesenheit von Krieg“. Dies gilt auch für die Aufarbeitung alter Konflikte. Wenn sie nicht erwähnt werden, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt. Es klingt wie ein Widerspruch: Erst die kollektive und kontinuierliche Erinnerungspraxis sorgt dafür, dass Traumata überwunden und gewaltvolle Zeiten ad acta gelegt werden können.

Das Beispiel argentinischer Menschenrechtsgruppen liefert anderen Post-Konflikt-Gesellschaften ein gutes Vorbild, Kriegsverbrechen nicht ruhen zu lassen, sondern aufzuklären: So etwa halfen argentinische Forensikerinnen in Bosnien, die Toten des Massakers von Srebrenica (1995) zu identifizieren. Die Angehörigen konnten die Ermordeten endlich begraben – auch das befriedet eine Gesellschaft.

Nicht jedes Trauma muss unendlich andauern, sondern kann durch gemeinsames Trauern überwunden werden, erklärt Psychologin Kühner. Der gemeinsame Trauerprozess in Argentinien, der durch Aktivistinnen wie etwa die „Madres de Plaza de Mayo“ (Mütter des Plaza de Mayo) oder die „Abuelas de Plaza de Mayo“ (Großmütter des Plaza de Mayo) an die Gesellschaft herangetragen worden war, hat die Menschen gegenüber ähnlichen Herausforderungen wachsam gemacht: In der Wirtschaftskrise im Dezember 2001 ließ die Regierung auf Protestierende schießen. Daraufhin versammelten sich umso mehr Menschen vor dem Regierungssitz, um für die Demokratie einzustehen.

Die Kontrolle der Ausgangssperre während der Corona-Krise im Frühjahr von schwerbewaffneter Polizei und Militär, die bei Zuwiderhandlungen sehr brutal vorgingen, ließ bei den Argentiniern die Alarmglocken läuten.

Auch in anderen Situationen kann die Erinnerung an eine schmerzvolle Vergangenheit dabei helfen, die aktuelle Krise besser zu meistern. Als im Februar 2020 klar wurde, dass sich das Coronavirus von Asien aus weiter ausbreiten würde, wurden in Europa noch keinerlei Vorkehrungen getroffen. In Ostafrika hingegen waren die Erinnerungen an die Ebola-Epidemie 2018 in der Demokratischen Republik Kongo noch sehr frisch.

Deswegen begannen Staaten wie Tansania sofort, bei allen Reisenden die Temperatur zu messen und Verdachtsfälle zu isolieren. Das war in Europa bei den ersten Corona-Infektionen anders; hier waren im kollektiven Gedächtnis nur sehr ferne und vage Erinnerungen an lebensbedrohliche Seuchen gespeichert. Entsprechend langsamer war die Reaktion der Politik. Mit anderen Worten: Eine lebendige Erinnerung an vergangene Krisen kann überlebenswichtig sein.


Sheila Mysorekar ist freie Journalistin und Projektmanagerin bei der Deutschen Welle Akademie. Sie lebte und arbeitete elf Jahre in Argentinien.
sheila.mysorekar@dw.com

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