Editorial

Nicht wegzuwünschen

Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Manche eitern weiter. Traumata der Vergangenheit sind besonders gefährlich, wenn sie ganze Bevölkerungsgruppen betreffen. Der Zerfall Jugoslawiens war dafür ein Beleg: Sowohl serbische als auch kroatische Kämpfer beriefen sich auf Milizen aus dem Zweiten Weltkrieg. Kriegsverbrecher gaben vor, Rache für fünf Jahrzehnte altes Unrecht zu üben.

Von Hans Dembowski

Damit Versöhnung Wurzeln schlägt und positive Entwicklung ermöglicht, müssen sich Menschen der Geschichte stellen. Das ist leichter gesagt als getan. Vergangenheitsbewältigung hat viele Dimensionen. Die wichtigsten sind:
– Wer Verbrechen begangen hat, muss juristisch zur Rechenschaft gezogen werden, damit Recht gesprochen wird.
– Das Leid der Opfer muss anerkannt und ihre Würde wiederhergestellt werden.
– Die Opfer verdienen ärztliche, psychologische und sonstige Unterstützung, damit ihr Leid verringert wird und gesellschaftliche Wunden heilen können.
– Die Erinnerung an das Grauen muss wach bleiben, weil sonst echte oder vorgetäuschte Ignoranz Gerechtigkeit und Menschenwürde wieder bedrohen können.

Alle diese Dimensionen sind wichtig. Sie anzugehen ist aber schwer – unter anderem, weil in jeder gesellschaftlichen Katastrophe ein relevanter Teil der Bevölkerung mit den Tätern verbandelt ist. Nicht alle sind im rechtlichen Sinne schuldig, und selbst die moralische Schuld mag bei einigen Mitläufern eher gering sein. Diese Menschen können nicht auf Dauer ausgegrenzt werden, aber die Flecken in ihrer Biografie dürfen auch nicht einfach ignoriert oder weggewaschen werden.

Vergangenheitsbewältigung dauert lange. Keine Gesellschaft kann das auf einen Schlag erledigen. Die deutsche Geschichte war im 20. Jahrhundert mit Völkermord, zwei Weltkriegen und zwei totalitären Diktaturen besonders schrecklich. Heute sagen aber die meisten internationalen Beobachter, dass sich unser Land der Vergangenheit stellt und viel getan hat, um sich mit Regimeopfern und Kriegsfeinden wieder zu versöhnen.

Das war aber nicht leicht und ging auch nicht schnell. Bundespräsident Richard von Weizsäcker löste noch 40 Jahre nach Kriegsende Entrüstung aus, als er den 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“ von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nannte. Seine Sicht setzte sich aber in der öffentlichen Diskussion durch.

Zweifellos hat internationaler Einfluss dazu beigetragen, das Selbstverständnis Deutschlands zu ändern. In den Nürnberger Prozessen verurteilten ausländische Richter führende Nazis. Später verhandelten auch deutsche Gerichte Naziverbrechen. Die erstaunlich wohlwollende US-Besatzungsmacht und ihr Konzept der Umerziehung waren wichtig.

Heute helfen deutsche Partner anderen Nationen in schwieriger Lage. Die Konrad-Adenauer-Stiftung und die Friedrich-Ebert-Stiftung beispielsweise sind zu Recht stolz auf ihren beratenden Beitrag zum demokratischen Wandel in Ländern wie Spanien, Portugal, Südafrika oder Chile. Die wichtigste Lehre aus der deutschen Erfahrung ist vermutlich, dass internationale Zusammenarbeit hilfreich ist. Es gibt universelle Menschenrechte, und es ist richtig, auf ihnen zu beharren.

Es gibt indessen kein Patentrezept für Vergangenheitsbewältigung. Jedes Land ist anders und hat seine eigene, ganz besondere Geschichte. Kollektivtraumata tun weh, und was am besten zu tun ist, um sie zu heilen, hängt immer von der je­weiligen Kultur und dem spezifischen Kontext ab. Verdrängt werden darf diese Aufgabe aber nicht. Das Leiden ist echt und lässt sich nicht wegwünschen.

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