Stadtentwicklung
Elektrische Träume
Von Martina Otto
Zum Zeitpunkt des ersten Erdgipfels in Rio 1992 gab es 5,4 Milliarden Menschen. Im November 2011 tat der siebenmilliardste Erdenbürger den ersten Atemzug – und am selben Tag zogen mehr als 140 000 Menschen in eine Stadt. Das sind eine Million Menschen pro Woche oder sieben Mal New York City pro Jahr. Dieses Wachstum bedeutet, dass 2050 von geschätzt neun Milliarden Menschen 70 Prozent in Städten leben werden. 1900 waren es nur 13 Prozent. Die UN erwartet 93 Prozent dieses Wachstums in Entwicklungsländern, 80 Prozent davon in Asien und Afrika.
Auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen stoßen wir an Nachhaltigkeitsgrenzen. Regierungen, Wirtschaft und Industrie müssen für die zusätzlichen Menschen Nahrung, Unterkunft und Transportmöglichkeiten beschaffen. Das birgt soziale, ökonomische und ökologische Risiken. Es gibt aber auch die Chance einer grünen Wirtschaft. Dabei spielt Energie immer eine zentrale Rolle.
Städte werden enorm viel davon brauchen. Auch auf die Energieinfrastruktur kommt es an. In der letzten Dekade deckte Kohle fast 50 Prozent der zusätzlichen Nachfrage nach Elektrizität. Im Verkehrswesen basiert 94 Prozent der Energieversorgung auf Öl. Laut International Energy Agency (IEA) sind bis 2035 Investitionen in Höhe von 38 Billionen Dollar nötig – zumeist in fossile Treibstoffe –, um den künftigen Energiebedarf zu decken.
Studien zu Klimawandel und globaler Erwärmung besagen: Wird heute bei Investitionen nicht umgesteuert, verschlimmern sich künftig viele Probleme, die die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen mit sich bringt. Das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), das UN-Umweltprogramm (UNEP) und die IEA warnen, dass kaum Zeit bleibt, um die TreibhausgasEmissionen zu reduzieren. Wenn die Welt nicht in weniger als einem Jahrzehnt entschlossen handelt, werden die globalen Oberflächentemperaturen im Schnitt um mehr als zwei Grad Celsius ansteigen und wird der Klimawandel sehr gefährliche Ausmaße annehmen.
Können die massive Steigerung von Energieeffizienz und erneuerbare Energien tatsächlich fossile Kraftstoffe ersetzen? Rein technisch betrachtet, ist das möglich. Der Geist der sauberen Energie ist entfesselt, auf dem Markt gibt es heute schon Energietechnik mit null und sogar negativen Emissionen (wenn Anlagen CO2 absorbieren). Ob solche Optionen genutzt werden, hängt aber von vielen ökonomischen, sozialen und politischen Fragen ab.
2010 stammten etwa 16 Prozent des Endenergieverbrauchs aus erneuerbaren Energiequellen, so heißt es im kürzlich vom REN21 – dem Renewable Energy Research and Policy Network for the 21st Century – veröffentlichten „Global Status Report“ (siehe auch Sammelrezension auf S. 30). Rund die Hälfte der 2010 schätzungsweise hinzugekommenen 194 GW Stromkapazität weltweit entstammen erneuerbaren Energien. Sie lieferten im gleichen Jahr fast 20 Prozent des weltweiten Stroms – und der Anteil steigt in allen Endverbrauchssektoren wie Elektrizität, Heizung und Transport.
Zukunft der Energieversorgung
Städte unterscheiden sich untereinander sehr, was Energieverbrauch und -quellen angeht. Reiche Metropolen in Industrienationen wie London, Bologna oder Tokio verbrauchen mehr als die Hälfte ihrer Energie zum Heizen und Beleuchten von Wohn- und Geschäftsgebäuden, erst dann folgen Verkehr (mit 25 bis 38 Prozent der Energie) und Industrie. In Städten wie Berlin und Tokio liegt der Industrieanteil schon unter zehn Prozent, weil ihr Dienstleistungssektor besonders ausgeprägt ist.
Alle Städte brauchen Strom. Früher produzierten ihn wenige große Kraftwerke mit fossiler oder nuklearer Technik. Dann wurde er in die Städte geleitet. Die heutigen Stromnetze wurden gebaut, als Elektrizität billig, Umwelt kein Thema und der Konsument kein Teil der Rechnung war. Stromversorgung funktionierte linear – der Versorger lieferte Elektrizität und schickte dann die Rechnung.
Seit den 1980er Jahren wirken aber neue Kräfte. Die Kosten erneuerbarer Energie sanken, kleinere Generatoren konnten in die Netze integriert werden. Sie waren näher am Ort des Stromverbrauchs. Viele neue Anlagen nutzen erneuerbare Energieträger wie Wind, Sonnenlicht, geothermische Wärme und kleine Wasserkraftanlagen. Die Entwicklung neuer Kommunikationsnetze hat es vorgemacht: das Internet ist – nicht zuletzt dank rasant sinkender Rechnerkosten – wohl die transformativste Innovation des 20. Jahrhunderts.
Es verändert übrigens auch die Energieversorgung. Moderne Informationstechnik macht es möglich, Tausende von Computern zu verbinden und so mehr Rechnerkapazität zu aktivieren, als selbst die stärksten zentralisierten Computer bereitstellen können. Genauso können auch Millionen lokaler Produzenten mit erneuerbaren Energien potentiell mehr Strom liefern als die alten, zentralisierten Infrastrukturen, die auf fossilen Trägern beruhen.
Smartes Stromnetz
Die Verbindung dezentraler Kommunikationstechnologien mit dezentraler, regenerativer Stromerzeugung ermöglicht neue, offene und intelligente Versorgungsnetze. Sie werden auch als „smart grids“ bezeichnet. Sie bilden die Basis für eine neue Energiedemokratie, die alle Bürger einbezieht. Die heutige Jugend wächst in einer vernetzten Welt mit flachen Hierarchien auf. Für sie wird die Fähigkeit, in einem Open-Access-Stromnetz Strom zu produzieren und zu nutzen, so selbstverständlich sein, wie das Produzieren und Nutzen von Information im Internet.
Ein Schlüssel für nachhaltige Energieversorgung ist die Infrastruktur, die ihr dient. In den nächsten zwanzig Jahren werden Millionen von Gebäuden energieeffizient gebaut oder entsprechend renoviert. Smarte, mittels intelligenter Energienetze verbundene und kontrollierte Geräte werden die Effizienz verstärken. Gebäude werden Wände und Dächer mit eingebauten Solarzellen haben und als kleine Kraftwerke fungieren, die Strom in das intelligente, lokale Netz einspeisen.
Die Stadt München will bis 2025 ihre dann voraussichtlich benötigten 7,5 Milliarden Kilowattstunden Energie zu 100 Prozent aus erneuerbaren Quellen gewinnen. Die bayerische Landeshauptstadt wäre damit weltweit die erste Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern, der das gelingt. Dank Verknüpfung lokaler regionaler Projekte ist das möglich. Bereits 2010 bezog München 50 Prozent der Energie aus regenerativen Quellen.
Die meisten erneuerbaren Träger liefern nur unbeständig Strom. Deshalb braucht ein dezentrales, nachhaltiges Versorgungssystem Speichermöglichkeiten. Batterien, Brennstoffzellen, Superkondensatoren und komprimierte Luft sind interessante Optionen – und ihre Entwicklung schreitet rasch voran. Das Verkehrswesen, das seinerseits Emissionen senken muss, kann dabei eine zentrale Rolle spielen, sowohl was die Energiespeicherung als auch das Funktionieren der dezentralen Netze angeht. Elektro- und Hybridautos können Strom in das Netz einspeisen – aber auch daraus beziehen.
Wie steht es um Städte in Entwicklungsländern, wo Infrastruktur und Stromversorgung deutlich unter dem Standard der Industrieländer liegen? Ihr Vorteil könnte sein, dass sie nicht an ein alterndes Stromnetz gebunden sind, sondern sofort in eine nachhaltige Energiezukunft starten können. Es ist sinnvoll, von Anfang an Infrastrukturen aufzubauen, die auf weithin zugänglichen erneuerbaren Quellen basieren.
Ähnlich wie Entwicklungsländer den Mobilfunk nutzen, und so ohne flächendeckendes Festnetz auskommen, können sie beim Übergang in eine Ära der erneuerbaren Energien Zeit und Kosten sparen. Sie sollten gleich neue, dezentrale Systeme aufbauen, anstatt alte und überholte Netze zu flicken. Ohne großes Risiko lassen sich dezentrale Strukturen schaffen, um zunächst Städte und später ganze Regionen zu versorgen, und schließlich auch über nationale Grenzen hinaus zu reichen.
Natürlich erfordert eine zu 100 Prozent nachhaltige Energiewirtschaft in Städten nicht nur Technik. Die Einstellung der Menschen muss sich ändern, und auch daran muss gearbeitet werden. Jedenfalls müssen Energiepreise die ökologische Wahrheit sagen (siehe Kasten).
Die kontinuierliche Steigerung der Energieeffizienz wird den Wandel vorantreiben. Es muss viel getan werden, um Energieträger zu ersetzen, wie etwa beim Auto, wenn Elektrizität flüssige Treibstoffe ablöst. Öffentliche Verkehrsmittel und nicht motorisierte Transportmittel sind in Städten besonders wichtig. Das Fahrradverleihsystem Vélib’ in Paris hat die Art, wie sich die Menschen dort bewegen, bereits verändert.
Die UN haben das Jahr 2012 zum „Internationalen Jahr der nachhaltigen Energie für alle“ ausgerufen. Zu den Zielen gehört die Verdoppelung der Energieeffizienz und der Nutzung erneuerbarer Energien in den nächsten zwei Jahrzehnten. Die Städte sind prädestiniert für diesen Wandel, da dort viele Menschen leben und die Infrastruktur ständig erneuert wird. Städte haben enorme Möglichkeiten, den Wandel zur absolut nachhaltigen Energienutzung zu vollziehen. Alle dafür zur Verfügung stehenden Instrumente aufzuzählen, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Relevant sind aber unter anderem Regulierung, Anreize und kluge Nutzung der Kaufkraft. Die Website von REN21 gibt einen guten Überblick dazu. Auch der „Green Energy Report“ von UNEP diskutiert relevante Maßnahmen.
Rascher Fortschritt
Vielleicht wird die größte Überraschung sein, wie schnell sich der Übergang zu sauberer, nachhaltiger Energie vollzieht. Es dauerte nur zwei Jahrzehnte bis Computer und Drucker die Schreibmaschine zu einer Antiquität machten. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts kannten Musikindustrie und Medienunternehmen kein dezentrales File-Sharing. Diese Branchen erleben nun in weniger als einem Jahrzehnt einen kompletten Wandel.
Wenn der siebenmilliardste Mensch auf Erden seinen oder ihren 20. Geburtstag feiert, werden zwei Jahrzehnte fortgeschrittener Computer- und Kommunikationstechnologie die traditionelle Von-oben-nach-unten-Energieversorgung zu einem Relikt aus vergangenen Tagen gemacht haben. Egal, ob das Geburtstagskind dann sein urbanes Zuhause mit eigener erneuerbarer Energie antreibt oder diese anderswo kauft, es wird aller Voraussicht nach die Wahl haben.