Coronavirus

Drastisch auseinanderklaffende Corona-Todeszahlen

Zwischen indischer Regierung und Weltgesundheitsorganisation WHO herrscht ein Konflikt über die Corona-Todeszahlen im vergangenen Jahr.
Patient in Kalkutta im Mai 2021: Als die Corona-Welle hochging, erhielt nicht jeder, der ihn gebraucht hätte, Sauerstoff. picture alliance / ZUMAPRESS.com / Dipayan Bose Patient in Kalkutta im Mai 2021: Als die Corona-Welle hochging, erhielt nicht jeder, der ihn gebraucht hätte, Sauerstoff.

Indien erlitt im vergangenen Jahr eine drastische zweite Corona-Welle. Viele Menschen starben, im Fernsehen waren ständig Feuerbestattungen zu sehen – und das Wehklagen verzweifelter Angehöriger (siehe Roli Mahajan auf www.dandc.eu). Todesursache war nicht allein das Virus, sondern maßgeblich auch, dass das indische Gesundheitswesen von der Vielzahl der Patienten überfordert war. Der Mangel an Sauerstoff und Klinikbetten betraf selbst Patienten aus wohlhabenden Familien.

Die Unzulänglichkeit der öffentlichen Gesundheitsdienste ist unbestritten, nicht aber die genaue Zahl der Menschen, die in Indien an Corona starben. Die WHO geht davon aus, dass die Pandemie 2021 erschütternde 4,7 Millionen Menschenleben kostete – etwa zehnmal mehr, als die indischen Behörden für die Zeit zwischen Januar und Dezember anerkennen.

„Übersterblichkeit” erfassen

Die offiziellen indischen Statistiken erfassen nur jene als Pandemieopfer, bei denen das Coronavirus explizit diagnostiziert wurde. Die WHO hingegen spricht von „Übersterblichkeit“. Dabei werden die Todesfälle eines Jahres mit denen der Vorjahre verglichen. Die Differenz zwischen den aktuellen Zahlen und dem langfristigen Trend wird dann der Pandemie zugeschrieben. Das ist sinnvoll, kann im Detail aber durchaus diskutiert werden.

Tatsächlich weichen die WHO-Schätzungen massiv von den Regierungsdaten vieler Länder ab. Den Berechnungen der WHO zufolge hat Covid-19 weltweit bisher rund 15 Million Menschen das Leben gekostet. Das sind 2,5 Mal mehr als die knapp sechs Millionen Toten, die offizielle Statistiken ausweisen.  

Die indische Regierung wirft der WHO fehlerhaftes methodisches Vorgehen vor. Ihrem eigenen Melderegister nach starben 2021 nur etwa 475 000 (etwa sechs Prozent) mehr Menschen gegenüber dem Jahr 2020 mit 7,6 Millionen. Die Behörden betonen auch, dass nicht alle zusätzlichen Todesfälle auf Corona zurückgehen. Angesichts der Größe und Vielfalt des Landes sei der „one size fits all“-Ansatz der WHO laut indischer Regierung nicht anwendbar.

Tatsächlich stützt sich die WHO nicht nur auf Regierungsdaten, sondern auch auf andere Quellen wie Medienberichte und wissenschaftliche Studien. Sie sagte zu, ihre Schätzung für Indien zu überprüfen, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie Wesentliches ändern wird.

Indiens Mangel an Vertrauen

Viele Inder trauen den amtlichen Corona-Statistiken nicht. Die bekannte Fernsehreporterin Barkha Dutt nannte kürzlich in der Washington Post Gründe dafür. Um „eine Sterbeurkunde zu erhalten, die Covid-19 als Todesursache aufführt“, mussten sich Familien durch „das Labyrinth der Bürokratie“ kämpfen, schreibt sie. Außerdem berichteten ihr Gemeindevorsteher in jedem Dorf, das sie besuchte, die Anzahl der Todesfälle schnelle in die Höhe.

Besonders in ländlichen Gebieten schreckten die Menschen aus Angst vor Stigmatisierung vor Tests zurück, sagt Dutt. Wegen Mangels an Sauerstoff nahmen viele Kliniken zudem keine neuen Patienten mehr auf. „Trotz dieser Katastrophe“, unterstreicht sie, „wurde dem indischen Parlament in diesem Jahr mitgeteilt, es habe während der Pandemie in keinem einzigen Bundesstaat einen Todesfall aufgrund von Sauerstoffmangel gegeben“.

Doch ist die Reaktion der indischen Regierung auf die WHO berechtigt. Die WHO behandle nicht alle Länder gleich, sagt sie. Besonders China werde von der WHO nicht hinterfragt – nicht nur hinsichtlich der Herkunft des Virus, sondern auch was die systematische Untererfassung der tatsächlichen Todeszahlen angeht. Shanghai befindet sich im Lockdown, 500 000 Fälle wurden gemeldet. Die offizielle Zahl von 285 ist schlicht unglaubwürdig.

Alle Regierungen wollen die öffentliche Wahrnehmung beeinflussen. Die WHO sollte dazu beitragen, dass sie nicht mit Unwahrheiten davonkommen. Die Aussage, chinesische Statistiken seien nicht glaubwürdig, entschuldigt aber nicht, dass die indische Regierung nicht alle relevanten Fragen schlüssig beantwortet.


Suparna Banerjee hat kürzlich ihren PhD in development studies an der Universität Bonn gemacht und lebt derzeit in Frankfurt.
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