Pakistan

Tourismusboom in Baltistan

Immer mehr pakistanische Urlauber*innen entdecken die entlegene Gebirgsregion im Nordosten des Landes. Das bringt Kaufkraft in die Gegend und schafft Arbeitsplätze, bedroht aber zugleich das soziale Gefüge in den Dörfern. Auch die veränderte Landnutzung birgt Konfliktpotenzial.
Die touristische Erschließung Baltistans schreitet voran: See nahe der Stadt Skardu. picture-alliance/Anadolu/Muhammed Semih Ugurlu Die touristische Erschließung Baltistans schreitet voran: See nahe der Stadt Skardu.

Baltistan im äußersten Nordosten Pakistans zieht bereits seit dem 19. Jahrhundert Besucher*innen an. Die Region beherbergt neben dem zweithöchsten Berg der Welt, dem K2, auch Seen, malerische Dörfer und historische Stätten, darunter mittelalterliche Burgen und Moscheen, Felsbilder und Malereien aus vorislamischer Zeit. Im Sommer ist das Klima in den Tälern mild.

Als Teil der zwischen Pakistan und Indien umstrittenen Region Kaschmir liegt Baltistan äußerst abgeschieden, mit hohen Gebirgsketten im Norden und der Waffenstillstandslinie zum indischen Teil Kaschmirs im Osten und Süden. Nur eine Straße im Westen und inzwischen regelmäßige Flugverbindungen verbinden Baltistan mit dem Rest von Pakistan. Entsprechend ist die Region wirtschaftlich wenig entwickelt.

Bis vor einigen Jahren waren es hauptsächlich ausländische Bergsteiger*innen, die Baltistan aufsuchten – ein kleines Publikum, das möglichst schnell die Gletscherregion erreichen will und die tieferen Lagen kaum besucht. Das änderte sich mit der starken Zunahme pakistanischer Tourist*innen seit etwa 2020 deutlich. Es waren zwei Krisensituationen, nämlich die Covid-19-Pandemie und die darauffolgende hohe Inflation, die viele wohlhabende Pakistanis erstmals dazu veranlassten, im eigenen Land Urlaub zu machen. Social Media befeuerte den Boom. Inzwischen liegen eine ganze Reihe von „must sees“ in der zuvor recht stiefmütterlich behandelten Region.

Geselligkeit und Komfort

Die einheimischen Urlauber*innen suchen andere Erlebnisse als die Bergtourist*innen. Ihnen geht es weniger um sportlichen Ehrgeiz und mehr um ein geselliges und komfortables Urlaubserlebnis mit Bekannten und Verwandten. Dazu gehören Hotelaufenthalte, Fahrten zu Aussichtspunkten und Sehenswürdigkeiten, Picknicks und kleinere Spaziergänge – alles stets vom Auto aus und mit guter Versorgung. Besonders wohlhabende Besucher*innen lassen sich gleich ein ganzes Ferienhaus bauen. Entsprechend konzentriert sich diese Art des Tourismus auf die bewohnten Täler mit bestehender Infrastruktur.

Die Lebensweise der Einheimischen, der Balti, ist seit jeher landwirtschaftlich geprägt, angepasst an die besonderen klimatischen Bedingungen. Aufgrund der Trockenheit der Täler ist Ackerbau ausschließlich mit Bewässerung möglich. Zugleich sind die Gebirgsbäche wild und unberechenbar. Deshalb haben die Balti im Laufe der Jahrhunderte ein ausgeklügeltes Netz an Kanälen erschaffen. Jedes Dorf verfügt über ein an seine Lage genau angepasstes Regelwerk mit wechselnden „Kanaldiensten“, Bewässerungszeiten und Pflichten zur Wasserdurchleitung für jeden Haushalt und jede Feldparzelle. Damit dieses System funktioniert, ist es entscheidend, dass alle Beteiligten im Dorf kooperieren.

Grundstückspreise steigen

Der neue touristische Wirtschaftszweig führt zu neuen Ressourcennachfragen. Insbesondere Land ist begehrt, um Hotels, Restaurants und Ferienhäuser zu bauen – möglichst an gut erreichbaren Stellen mit Aussicht. In manchen Orten Baltistans stiegen die Bodenpreise innerhalb weniger Jahre um ein Vielfaches. Davon profitieren sowohl einheimische Grundbesitzer*innen als auch Investor*innen, die fast immer aus anderen Landesteilen stammen. Viele Einheimische finden zudem in der Tourismusbranche Anstellung; die eher bescheidenen Löhne sind für sie ein Fortschritt. Für einheimische Landkäufer*innen dagegen wird das Angebot knapper, bei steigenden Preisen.

Vereinzelt entstehen in Baltistan auch touristische Bauprojekte in traditioneller Balti-Architektur, neben einigen Ferienhäusern etwa das Serena Shigar Fort Hotel in einer renovierten Burg. Bei solchen Projekten können örtliche Handwerker*innen und Planer*innen punkten. Allerdings ist noch offen, ob dieser Baustil zukünftig eine große Rolle spielen wird.

Profite ungleich verteilt

Der monetäre Profit aus dem Tourismus wird sich wohl auch in Zukunft sehr ungleich verteilen. Auswärtige Unternehmer*innen werden voraussichtlich den Großteil abschöpfen; ein geringerer Teil wird in Form moderater bis niedriger Einkommen vor Ort verbleiben. Diese wirtschaftliche Ungleichverteilung ist sowohl international im Tourismussektor gang und gäbe als auch generell in der pakistanischen Wirtschaft. Weder in Baltistan noch landesweit wird sie grundsätzlich hinterfragt.

Auch soziale und ökologische Schattenseiten des Tourismusbooms in Baltistan zeichnen sich bereits ab. Wächst der Tourismus weiter, dürften die bisherigen Bewässerungssysteme an ihre Grenzen stoßen. Touristische Einrichtungen werden einen anderen Wasserbedarf als die Landwirtschaft aufweisen, während ihre Besitzer*innen oder Angestellten nicht mehr unbedingt die bisherigen unbezahlten, aber allgemein verpflichtenden Kanalwartungsdienste übernehmen werden. Die Kulturlandschaft der Dörfer kann aber nur dank des täglichen Einsatzes sehr vieler Hände existieren. Sich selbst überlassen würde das Land innerhalb weniger Monate zur wüstenartigen Einöde verfallen.

Die veränderten Formen der Landnutzung bergen Konfliktpotenzial – etwa wenn Viehhirt*innen ihre Tiere aus Gewohnheit über Land leiten, das neu als Hotelgelände ausgewiesen ist. Schon jetzt verstopfen die Autos der Tourist*innen manche Ortskerne. Derzeit werden zudem die ersten Hotels an verlockenden, aber eigentlich ungeeigneten Stellen gebaut, etwa in Überschwemmungsgebieten oder an Hängen, die rutschen könnten – ein riskantes Unterfangen, auch für den Ruf der Region, sollte es zu einer Katastrophe kommen.

Soziale Spannungen

Darüber hinaus betont der Tourismusboom soziale Ungleichheiten – und schafft neue. Wenn wohlhabende pakistanische Tourist*innen oder Investor*innen Baltistan besuchen, bringen sie üblicherweise ein stark hierarchieorientiertes Verhalten mit. In dieser Erwartung sind die Balti als vergleichsweise arme Bauern gegenüber den Auswärtigen sozial niedriger gestellt. In die nicht sehr hierarchisch ausdifferenzierte dörfliche Gesellschaft bricht somit eine sozial wesentlich fragmentiertere Kultur ein. Die Balti nehmen das bisher weitgehend hin, gelegentliches Murren ist aber zu vernehmen.

Ein prägnantes Beispiel dafür habe ich bei einem Besuch in Baltistan im Jahr 2022 selbst erlebt: Ein Touristenjeep geriet auf einer einspurigen Straße in eine Schafherde samt Schäfer. Die Herde bewegte sich im üblichen langsamen Schritttempo vorwärts, was den Besucher*innen zu langsam vorkam. Sie wiesen den Fahrer – einen Balti – an, zügiger zu fahren, woraufhin ein Schaf ums Leben kam. Der Schäfer verlangte eine Entschädigung, welche die Tourist*innen lange nicht bereit waren zu zahlen – schließlich, so ihre Meinung, hätte der Schäfer sie ja auch vorbeilassen können. Die Tourist*innen waren augenscheinlich nicht bereit, anzuerkennen, dass der Schäfer ein gleiches Recht zur Nutzung der Straße haben könnte wie sie.

Trotz derartiger Vorkommnisse begrüßen viele Balti den Tourismusboom grundsätzlich, bringt er doch willkommene neue Einkommensmöglichkeiten in die Bergregion. Um möglichen negativen Folgen vorzubeugen, sollten staatliche Akteure wie auch zivilgesellschaftliche Organisationen durch gezielte Schulungs- und Weiterbildungsangebote die Balti dazu befähigen, selbst im Tourismus unternehmerisch tätig zu werden. So würde wesentlich mehr Gewinn vor Ort bleiben, als es derzeit der Fall ist. Gleichzeitig gilt es, schützenswerte natürliche Ressourcen wie Quellen, Wasserläufe, Seen und besonders fruchtbare Böden rasch zu erfassen. Basierend darauf ließe sich eine sozial und ökologisch nachhaltige Landnutzung entwickeln, um die örtlichen Lebensgrundlagen noch lange zu erhalten – sowohl für Einheimische als auch für Tourist*innen.

Felix Kugele hat in Pakistan und Afghanistan für eine internationale humanitäre Organisation gearbeitet und kennt Baltistan aus mehreren Aufenthalten.
felixkugele@yahoo.com

Social tensions

Moreover, the tourism boom is emphasising social inequalities – and creating new ones. When wealthy Pakistani tourists or investors visit Baltistan, they usually bring strongly hierarchical behaviours with them. The Balti, as comparatively poor farmers, are considered socially inferior to the outsiders. Thus, a much more socially fragmented culture is intruding into a less hierarchical village society. The Balti have largely accepted this so far, but occasional grumbling can be heard.

I myself experienced a striking example of this while on a visit to Baltistan in 2022: a tourist Jeep encountered a flock of sheep along with a shepherd on a one-lane road. The flock moved forward at its usual slow pace, which the visitors thought was too slow. They told their driver – a Balti – to drive faster, and as a result a sheep was killed. The shepherd demanded compensation, which the tourists were unwilling to pay for a long time – after all, they argued, the shepherd could have let them pass. The tourists were clearly unprepared to admit that the shepherd could have the same right to use the road as they did.

Despite such incidents, many Balti ultimately welcome the tourism boom because they appreciate the new income opportunities it brings to the mountainous region. In order to prevent possible negative impacts, state actors and civil-society organisations should use targeted training and further education initiatives to enable the Balti to become entrepreneurs in the tourism industry. Doing so would keep significantly more profit in the local economy than is currently the case. At the same time, it is important to quickly identify natural resources like springs, waterways, lakes and particularly fertile soil that are in need of protection. From there, socially and ecologically sustainable land use can be developed that would maintain local livelihoods for a long time – both for residents and tourists.

Felix Kugele has worked in Pakistan and Afghanistan for an international humanitarian organisation and knows Baltistan from numerous visits.
felixkugele@yahoo.com