Weltrisikobericht 2021

Soziale Sicherung zur Katastrophenvorsorge

Soziale Sicherung ist ein Menschenrecht. Ländern mit geringem Einkommen fehlen aber häufig die finanziellen Mittel, um tragfähige Sicherungssysteme umzusetzen. Ein globaler Fonds könnte laut Experten helfen.
Risikovorsorge: Saatenbank im südindischen Bundesstaat Karnataka. SB Risikovorsorge: Saatenbank im südindischen Bundesstaat Karnataka.

Extreme Naturereignisse wie Erdbeben, Stürme, Überschwemmungen oder Seuchen wie die Covid-19-Pandemie bringen weltweit viele Menschen in Existenznöte. Zu Katastrophen werden diese Ereignisse in Ländern, die keine Möglichkeiten haben, diese zu bewältigen oder abzumildern. Soziale Sicherungssysteme können Katastrophenfolgen abmildern und die Resilienz der Menschen stärken, betonen die Autorinnen und Autoren des aktuellen Weltrisikoberichts (siehe Maren Suchta-Platzmann und Amédé Schmitz auf www.dandc.eu). Dieser wird jährlich vom zivilgesellschaftlichen „Bündnis Entwicklung Hilft“ herausgegeben, einem Zusammenschluss von mehreren Hilfswerken, darunter Brot für die Welt und Misereor.

53 Prozent der Weltbevölkerung sind laut der internationalen Arbeitsorganisation (ILO – International Labour Organization) nicht ausreichend sozial abgesichert. Menschen können sich gegenseitig gegen Risiken absichern, Versicherungen verteilen die Risiken auf viele Versicherungsnehmer (siehe Dirk Reinhard auf www.dandc.eu)oder der Staat sorgt für die soziale Absicherung seiner Bürger (siehe Markus Loewe auf www.dandc.eu). Zu den formellen Leistungen zählen Sozialhilfe, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen, Arbeitsmarkt-Interventionen und soziale Versorgungsdienste, etwa zur Traumabewältigung Diese Leistungen sind aber kostenintensiv, und Ländern mit niedrigem Einkommen fehlt dafür häufig das Geld.

Deshalb sind laut Weltrisikobericht in Ländern mit niedrigen Einkommen private Versicherungen und informelle Leistungen besonders wichtig. Die Familie, Nachbarn oder religiöse Gemeinschaften helfen sich im Notfall. Beispiele sind dörfliche Getreidebanken, Rücküberweisungen von ausgewanderten Familienmitgliedern oder Kredit- und Spargruppen. Informelle Leistungen haben auch den Vorteil, dass sie meist flexibler als staatliche Leistungen sind. Allerdings sind Erstere regional begrenzt und nicht immer offen für alle, erklären die Autorinnen und Autoren.

Soziale Sicherung als Menschenrecht

Seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 gilt soziale Sicherung als Menschenrecht. Dieser rechtebasierte Ansatz sieht Staaten gegenüber Bürgerinnen und Bürgern in der Pflicht, soziale Sicherheit zu gewährleisten. Das Recht wurde später in internationalen Konventionen konkretisiert.

Als zentrales Dokument gelten die 2012 von den UN vorgestellten Empfehlungen und Leitlinien für den Aufbau von sozialen Sicherungssystemen, entwickelt aus der 2009 gegründeten Social Protection Floor Initiative. Sie sind auch in der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verankert.

Staaten, die den Leitlinien folgen, unterwerfen sich einer Selbstverpflichtung. Sie besteht aus zwei Komponenten: sozialem Basisschutz und darauf aufbauenden, weitergehenden Sicherungsmaßnahmen. Zum Basisschutz gehören der Zugang zu medizinischer Grundversorgung und ein Mindestmaß an Einkommenssicherung für alle Einwohner. In der konkreten Ausgestaltung haben Staaten viel Spielraum.

Anpassungsfähige soziale Sicherung

Krisen und Katastrophen setzen Sicherungssysteme unter Druck. Das hat die Covid-19-Pandemie gezeigt und große Ungleichheiten der Systeme weltweit offengelegt. Laut dem Bericht erhalten nur 20 Prozent der Weltbevölkerung, vor allem in Ländern mit mittlerem oder hohem Einkommen, pandemiebedingt neue oder angepasste Leistungen.

Im Katastrophenfall müssen bestehende Systeme kurzfristig ausgebaut werden, da meist keine Zeit für den Aufbau neuer Systeme bleibt. Dazu können entweder weitere Begünstigte in die Leistungen einbezogen (horizontale Expansion) oder die Leistungen erhöht oder verlängert werden (vertikale Expansion). Als Beispiel nennen die Autoren Argentinien. Dort wurde zur Linderung der Pandemiefolgen das Arbeitslosengeld um 50 Prozent erhöht (vertikal) und ein Bargeldtransferprogramm mit zwei Pauschalzahlungen in Höhe von 142 US-Dollar eingeführt, um auch den informellen Sektor zu erreichen (horizontal).

Ein Problem, so der Bericht, ist, dass die Leistungen häufig nicht die Personen erreichen, die auf sie angewiesen sind. Den Betroffenen fehlen oft Identitätsnachweise, sie sind sozial stigmatisiert oder sie stoßen auf Kommunikationsbarrieren. Neben einer quantitativen Ausweitung brauche es daher auch qualitative Verbesserungen. Leistungen müssten zielgruppengerecht sein und Barrieren abgebaut werden.

Der Weltrisikobericht warnt aber auch, dass Staaten beim Erfassen der Leistungsbezieher auch personenbezogene Daten erheben, die zum Schaden der Personen missbraucht werden können. Bürger sollten deshalb auch kritisch auf die sozialen Programme blicken sowie informelle, gemeindebasierte Sicherungssysteme als Alternative in Betracht ziehen.

Die Autorinnen und Autoren plädieren dafür, Klimaschutz und soziale Sicherung zu verbinden. Wiederaufbaumaßnahmen nach der Covid-19-Pandemie könnten beispielsweise grüne Investitionen oder Umschulungen von Arbeiterinnen und Arbeitern für sauberere Industrien fördern.

Globaler Fonds

Länder mit niedrigem Einkommen sind einem überproportional hohen Katastrophenrisiko ausgesetzt (siehe Kasten). Katastrophen können dort eine Negativspirale in Gang setzen, sodass sich bestehende Armut und Ungleichheit verschärfen und die Resilienz weiter geschwächt wird. Der Weltrisikobericht plädiert dafür, dass im Rahmen internationaler Kooperation für diese Länder ein „globaler Fonds für soziale Sicherheit“ eingerichtet werden sollen (siehe Markus Kaltenborn und Laura Kreft auf www.dandc.eu).

Der Fonds würde den Aufbau des Basisschutzes beratend und vorübergehend auch finanziell unterstützen. In Krisensituationen könnte er zudem helfen, kurzfristige finanzielle Engpässe zu überbrücken, um den Basisschutz nicht einbrechen zu lassen. Langfristig sollen Staaten dazu befähigt werden, soziale Sicherung aus eigenen Mitteln zu finanzieren.

Soziale Sicherungssysteme müssten laut Weltrisikobericht fünf Anforderungen erfüllen. Sie sollten:

  • ganzheitlich gestaltet werden und rechtebasiert sein,
  • fair sein und soziale Benachteiligung ausgleichen,
  • flexibel und anpassbar sein,
  • weltweit verfügbar, angemessen, zugänglich und bezahlbar sein,
  • in Katastrophenprävention sowie Klimaschutz und -anpassung einbezogen werden.

Die Autoren schlagen vor, eine internationale Institution zur Verwaltung des Fonds zu gründen. Sie soll sich an den Prinzipien Eigenverantwortung, Inklusivität und Rechenschaftspflicht der Aid-Effectiveness-Agenda orientieren. Aid Effectiveness bedeutet, die Wirksamkeit der Entwicklungspolitik durch effektivere Zusammenarbeit zu verbessern (siehe Peter Lanzet auf www.dandc.eu). Zur Finanzierung könnten Mittel aus der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit (ODA – official development assistance) herangezogen werden.

Studien haben laut Weltrisikobericht gezeigt, dass Instrumente der sozialen Sicherung effektiv zur Armutsbekämpfung eingesetzt werden können. Allerdings würden derzeit nur 0,4 Prozent der ODA-Ausgaben darauf verwendet. Weil soziale Sicherungssysteme als Vorsorge gegen klimabedingte Katastrophen wichtig sind, könnten auch Mittel der Klimafinanzierung herangezogen werden.


Link
Bündnis Entwicklung Hilft, 2021: WeltRisikoBericht 2021.
https://weltrisikobericht.de/download/2514/ 


Monika Hellstern studiert Internationale Beziehungen und arbeitet als freie Autorin.
euz.editor@dandc.eu