Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Verzerrte Wahrnehmung

Mehrheit mit mittleren Einkommen

Der prominente schwedische Arzt und Statistiker Hans Rosling hat seine letzten Lebensjahre der Aufgabe gewidmet, verzerrte öffentliche Wahrnehmungen zu korrigieren. Das Ausmaß der extremen Armut wird generell überschätzt, während globale Erfolge hinsichtlich Bildung und Gesundheit meist unterschätzt werden.
Hans Rosling bei einem witzigen TED-Vortrag über Religionen und Babys. Screenshot: https://www.ted.com/talks/hans_rosling_religions_and_babies?language=de Hans Rosling bei einem witzigen TED-Vortrag über Religionen und Babys.

Rosling hat seine Sicht der Dinge in dem Buch „Factfulness“ dargestellt. Es erschien kurz nachdem er Anfang dieses Jahres an Krebs gestorben war. Rosling wollte die Öffentlichkeit auf wichtige, aber oft übersehene Trends aufmerksam machen. In Europa und Nordamerika denken die meisten Menschen beispielsweise, dass es eine gewaltige Kluft zwischen einer kleinen Gruppe hochentwickelter Länder und einer großen Gruppe von Entwicklungsländern gibt. Tatsächlich leben aber die meisten Menschen in Ländern mit mittleren Einkommen.

Das spiegelt sich auch in anderen Trends wieder. Die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit beträgt heute 70 Jahre, und 80 Prozent aller einjährigen Kinder sind geimpft. Männer, die heute 30 Jahre alt sind, sind im Schnitt zehn Jahre lang zur Schule gegangen. Der Vergleichswert für Frauen im selben Alter ist neun Jahre. Die Differenz ist viel kleiner, als die meisten Menschen annehmen. Die Weltbevölkerung wächst noch, aber und nur, weil die Menschen länger leben als früher. Die Zahl der Kinder nimmt nämlich nicht mehr zu. Nur ein Fünftel der Menschheit hat heute gar keinen Zugang zu Strom.

Rosling lehnte es ab, von entwickelten Ländern und Entwicklungsländern zu reden. Aus seiner Sicht kommt es auf das Einkommensniveau der Menschen an. Sein Buch arbeitet mit vier Kategorien. Menschen auf Ebene 1 haben eine Kaufkraft von bis zu zwei Dollar am Tag. Menschen auf Ebene 2 haben bis zu acht Dollar und solche auf Ebene 3 bis zu 32 Dollar. Wem noch mehr Geld zur Verfügung steht, gehört zu Ebene 4.

Von rund 7 Milliarden Erdenbürgern, so steht es in Factfulness, leben jeweils rund 1 Milliarde auf Ebene 1 und auf Ebene 4. Derweil leben 3 Milliarden auf Ebene 2 und 2 Milliarden auf Ebene 3. Laut Rosling verdeckt die rhetorische Dichotomie von entwickelten Ländern und Entwicklungsländern die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der Menschheit von mittleren Einkommen lebt.

Derweil ist die Spanne der Einkommen auch innerhalb einzelner Länder beachtlich. Am Durchschnittseinkommen gemessen, gehört zum Beispiel Indien zur Ebene 2, wie im Buch erläutert wird. Allerdings gehört eine beachtliche Anzahl reicher Inder zu Ebene 4, während Massen armer Inder auf Ebene 1 ihr Dasein fristen. In der hochentwickelten Europäischen Union dagegen gibt es Menschen, deren Kaufkraft von weniger als 16 Dollar pro Tag der Ebene 2 entspricht.

Rosling arbeitete eng mit seinem Sohn Ola Rosling und seiner Schwiegertochter Anna Rosling Rönnlund zusammen. Sie sind die Co-Autoren des Buchs. Die Argumente entsprechen in vieler Hinsicht dem, was Steven Pinker von der Harvard Universität ausführt (siehe E+Z/D+C e-Paper 2018/07, S. 16). Das Buch der Roslings ist aber leichter zu lesen und unterhaltsamer. Wo Pinker ausführlich und akademisch korrekt Literatur diskutiert, berichtet Hans Rosling oft ebenso anschaulich witzig von seinen persönlichen Erfahrungen als Entwicklungshelfer.

Die Roslings führen aus, dass viele Dinge besser sind als gemeinhin angenommen, aber sie fordern weiterhin zu Engagement auf. So müsse die Menschheit etwa auf den Klimawandel angemessen reagieren, wobei Handeln von soliden Daten geleitet sein müsse.

Die Autoren verwenden weitgehend selbsterklärende Begriffe wie den „Negativitätsinstinkt“, den „Angstinstinkt“ oder den „Grade-Linien-Instinkt“, um zu erläutern, weshalb Wahrnehmungen oft verzerrt sind. Sie fordern ihr Publikum dazu auf, sich auf Basis zuverlässiger Fakten zu informieren. Die größte Stärke des Buches ist, dass es dieser Aufgabe auf ausgesprochen unterhaltsame Weise dient.


Literatur
Rosling, H. mit Rosling, O. und Rosling Rönnlund, A., 2018: Factfulness – Ten reasons we’re wrong about the world and why things are better than you think. London: Sceptre.
Deutsche Ausgabe, 2018: Factfulness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Berlin: Ullstein.