Roundtable

„Fokus auf globale Entwicklung“

Zwei angesehene Wissenschaftler sagen Entwicklungsministerien künftig neue, stärkere Rollen voraus. Hans Dembowski diskutierte darüber mit Simon Maxwell vom Londoner Overseas Development Institute und Dirk Messner vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik.


Interview mit Simon Maxwell und Dirk Messner

Wäre die Welt heute anders, wenn Deutschland nicht vor 50 Jahren das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) gegründet hätte?
Maxwell: Zuerst möchte ich sagen, dass Entwicklung überraschend erfolgreich ist. Die Lebenserwartung ist in einer Generation um 30 Jahre gestiegen, während sich die Kindersterblichkeitsrate halbiert hat. Sicherlich ist die Anzahl der Menschen, die nicht genug zu essen haben, mit einer Milliarde Menschen nach wie vor zu hoch, aber die absolute Zahl ist nun schon seit drei Jahrzehnten stabil. In dieser Zeit hat sich die Weltbevölkerung auf sieben Milliarden verdoppelt. Der allgemeine Trend ist positiv, auch wenn es immer noch zu viel Armut gibt. 99 Prozent dieses Erfolges ist auf die betroffenen Menschen und deren Regierungen zurückzuführen, aber auch die Entwicklungspolitik hat dazu beigetragen. Also ja – das BMZ hat die Welt verändert.

Was ist der Vorteil eines eigenständigen Entwicklungsministeriums?
Maxwell: 1997 etablierte London das DfID, das Department for International Development, als eigenständiges Ministerium, um kohärente Führung für alle Ressorts und alle Aspekte der Entwicklungszusammenarbeit – nicht nur der Entwicklungshilfe – zu gewährleisten. Es ist gut, ein Kabinettsmitglied zu haben, das sich auf Entwicklungsthemen konzen­triert. So bekommen die Themen mehr Gewicht. Oft werden Absprachen direkt vor Kabinettssitzungen in 10 Downing Street getroffen, oder wenn die Spitzenpolitiker Seite an Seite vorne im Parlament sitzen.
Messner: Genau, Entwicklungspolitik braucht eine starke Stimme im Kabinett. Es geht um eine spezifische Denkweise. Bevor es Entwicklungsminister gab, verfolgten alle Kabinettsmitglieder vorwiegend nationale Interessen – auch die Außenminister. Aber ein Entwicklungsminister berücksichtigt auch die Sicht der Partnerländer, sucht nach gemeinsamen Nennern und behält globale Perspektiven sowie gemeinsame globale Interessen im Blick. Diese neue Denkweise ist sehr wichtig, besonders in Zeiten der globalen Interdependenzen.
Maxwell: Wir dürfen auch die potenziellen Nachteile nicht übersehen. Es besteht das Risiko, dass Entwicklungsthemen exklusiv vom Entwicklungsminister wahrgenommen werden und alle anderen Kabinettsmitglieder bezüglich der internationalen Folgen ihres Handelns aus dem Schneider sind. Entwicklungspolitik muss als Querschnittsthema verstanden werden, für das alle Ministerien verantwortlich sind.

In Deutschland wird gewarnt, das Entwicklungsministerium dürfe nicht eine Art globales Sozialamt werden.
Messner: Die grundlegende Frage ist, wie wir den Auftrag des Ministeriums verstehen. Es gibt zwei Alternativen. Die erste zielt ganz auf Armutsthemen und die Erfüllung der Millenniumsziele ab. Solch ein Ministerium wäre auf lange Sicht sehr schwach und hätte mit einer abnehmenden Zahl von Staaten zu tun. Die Alternative ist ein Fokus auf globale Entwicklung. Ich will das kurz erklären. In den meisten Staaten gibt es gute Trends, was Wachstum, Regierungsführung, Bildung und so weiter angeht. Wie mein Kollege Simon eben sagte, machen viele Nationen Fortschritte. Gleichzeitig erleben wir aber auf der globalen Ebene gewaltige systemische Krisen – mit Finanzkrisen, Nahrungsmittel- und Hungerkrisen, Klimawandel und so weiter –, und diesen Herausforderungen sind nationale Regierungen allein nicht gewachsen. Das sind die Themen, auf die es zukünftig immer mehr ankommt.
Maxwell: Es ist wahr, dass nationaler Wohlstand heutzutage von innenpolitischen wie auch globalen Entscheidungen abhängt. Regierungen müssen sich nicht nur darauf konzentrieren, was in ihrem Land passiert, sondern auch sehen, was in der globalen Arena vor sich geht.

Was sind die wichtigsten globalen Herausforderungen?
Messner: Meiner Meinung nach gibt es vier Hauptthemen:
– Armut ist immer noch wichtig. Wir dürfen nicht vergessen, dass über eine Milliarde Menschen nicht genug zu essen haben und eine weitere Milliarde in Gefahr schweben, wieder in extreme Armut zurückzufallen.
– Der Zusammenhang von Frieden, Sicherheit, Armut und fragilen Staaten ist wichtig – nicht zuletzt, weil von Gewalt betroffene Staaten zumeist die sind, in denen Entwicklung nicht Fuß fasst.
– Wissen und Innovation für globale Entwicklung: Wir benötigen mehr Kooperation, um Erkenntnisse zu gewinnen und zu verbreiten. Bisher wird das meiste Wissen in den OECD-Staaten generiert, doch globale Probleme müssen von Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern gemeinsam gelöst werden, und das Wissen zur Lösung von lokalen Entwicklungsproblemen sollte in den jeweiligen Ländern produziert werden. Investitionen in Wissen und Innovation in armen Ländern wird wichtiger. Ohne endogene Wissenskapazitäten gibt es keinen Ausweg aus der Abhängigkeitsfalle.
– Entwicklung innerhalb der Grenzen des Planeten: Die Welt braucht saubere Energie und kohlenstoffarme Urbanisierung, und die vom Klimawandel besonders betroffenen Staaten müssen sich an die unabwendbare Erwärmung anpassen. Diese Aufgabe ist wahrscheinlich die dringendste. Wenn nicht schnell etwas passiert, werden die Probleme außer Kontrolle geraten.
Maxwell: Es lassen sich noch etliche Punkte anfügen, wie etwa der Schwund der biologischen Vielfalt, organisierte Kriminalität oder Terrorismus, die Verbreitung von Krankheiten und die wachsende Wasserknappheit. Ich würde das Management der Weltwirtschaft ganz oben auf die Liste setzen. Aber wir dürfen uns auch nicht in einem bedrückenden Teufelskreis verlieren, in dem wir nur über Risiken und Probleme reden. Wir müssen auch die Chancen sehen, von denen viele aus neuer Technik resultieren. Ich erinnere daran, wie schwierig internationale Kommunikation vor 50 Jahren war – und heute gibt es fast in ganz Afrika Mobilfunknetze. Handys tragen enorm zur sozialen Inklusion bei, sowohl binnenstaatlich als auch global. Medizinischer Fortschritt ist ein weiteres Beispiel – wir dürfen nicht vergessen, dass Impfungen oder auch Moskitonetze viele Menschenleben retten.

Ja, aber globale Probleme können diesen Fortschritt schnell zunichtemachen. Wie eben schon gesagt wurde, müssen wir auf den Klimawandel sofort reagieren, weil die Schwierigkeiten nicht warten, sondern ständig wachsen. Wie behalten Sie Ihren Enthusiasmus angesichts des schmerzlich zähen Fortschritts in der multilateralen Arena?
Maxwell: Ja, der Klimawandel und die Umgestaltung unserer Volkswirtschaften sind wichtig. Die Transformation kommt, ob wir wollen oder nicht, denn neue Märkte entstehen und andere verkümmern. Connie Hedegaard, die EU-Kommissarin für Klimadinge, betont gerne, dass China eine Exportindustrie in erneuerbaren Energien aufbaut. Wenn Europa nicht handelt, verdrängt China uns von diesem expandierenden globalen Markt. Er wächst – das ist wichtig –, obwohl es noch kein globales Klimaschutzabkommen gibt.

Inwiefern ist das, was wir jetzt diskutieren, Aufgabe des Entwicklungsministers?
Messner: Dies sind lauter wichtige Themen der globalen Entwicklung. Entwicklungsministerien in reichen Nationen haben auf diesem Feld einen komparativen Vorteil gegenüber anderen Ministe­rien. Sie wissen, wie man Partner im Ausland gewinnt, und sie sind stark im interkulturellen Austausch und bei Maßnahmen vor Ort. Künftig wird internationale Kooperation vermehrt auf Augen­höhe stattfinden. Weltpolitik kann auf Dauer nicht nach der Logik dominanter und untergeordneter Nationen funktionieren. Mehr Länder müssen einbezogen werden – man bedenke, dass wir in einer Ära tektonischer Macht- und Wohlstandsverschiebungen leben. Entwicklungsministe­rien sind außerdem zentrale Schaltstellen für globale öffentliche Güter, da sie schon in vielen relevanten Gebieten aktiv sind. Die Regierungen reicher Nationen wären dumm, wenn sie diese Erfahrungen und Expertise nicht nutzen würden.
Maxwell: Ich möchte das, was Dirk sagt, mit einem britischen Beispiel illustrieren. Indien hat gerade erst seine eigene bilaterale Entwicklungsinstitution aufgebaut. Neu-Delhi hat Afrika fünf Milliarden Dollar an Entwicklungshilfe in den nächsten drei Jahren zugesagt. Dennoch kooperiert das DfID weiter mit Indien und konzentriert sich dabei auf globale öffentliche Güter, Zusammenarbeit mit dem Privatsektor sowie die gezielte Unterstützung der ärmsten indischen Bundesstaaten. Das ist definitiv Entwicklungshilfe mit neuer Perspektive.
Messner: Ich würde gerne noch einen wichtigen Punkt ergänzen: Entwicklungsministerien haben kein Monopol auf internationale Kooperation. Ganz im Gegenteil sind immer mehr Ministerien im internationalen Austausch mit Staaten außerhalb der OECD involviert. Und das ist gut so! Internationale Kooperation darf nicht die Nische der Entwicklungsminister sein, sondern sie muss das ganze Kabinett einbeziehen. Darauf wollten wir immer hinaus. Was ich sagen will, ist, dass das Risiko der Fragmentierung besteht, wenn jedes Ministerium internationale Kooperation für sich allein betreibt. Koordination ist nötig. Wenn ein gestärktes BMZ diese Aufgabe annimmt und so eine Art Ministerium für globale Entwicklung wird, dann kann es an Einfluss gewinnen. Wenn es sich aber andererseits lediglich auf Armutsthemen konzentriert, wird es schwächer werden und die deutsche Politik zu Fragen globaler Entwicklung wird insgesamt weniger kohärent.

Wäre Kohärenz auf der europäischen Ebene nicht wichtiger?
Messner: Simon und ich engagieren uns schon lange dafür, europäische Entwicklungskooperation zu stärken. Meine persönliche Hoffnung ist, dass die aktuelle Euro-Krise dazu führt, dass die Europa-Debatte wiederbelebt wird und Europa dadurch gestärkt wird. Europa muss lernen, geschlossen aufzutreten. Das Konzept der 28 Entwicklungspo­litiken (27 Mitgliedsländer plus Kommission) ist zu teuer und zu unwirksam.
Maxwell: Die EU und ihre Mitglieder kommen zurzeit für etwa 60 Prozent der öffentlichen Entwicklungshilfe (ODA) weltweit auf. Die Euro­päische Kommission alleine ist als Geber größer als die Weltbank und etwa so groß wie die UN. Offensichtlich ist der europäische Einfluss aber nicht so groß wie der europäische Aufwand. Die EU könnte eine viel stärkere Kraft des Guten sein.

Aber würde eine stärkere EU bilaterale Kooperation nicht überflüssig machen?
Maxwell: Nein, bilaterale Kooperation ist sehr wichtig, besonders für kleine Länder. Bilaterale Programme lassen Menschen selbst Erfahrungen sammeln, und wir wollen doch, dass viele Leute diese Dinge verstehen.

Mein Eindruck ist, dass die Regierungen anderer reicher Nationen die stärksten Lobbys der Entwicklungsminister sind. Vor 50 Jahren sprach sich der US-Präsident John F. Kennedy für westliche Entwicklungshilfe aus, weil diese half, den Einfluss der Sowjetunion einzuschränken. In den vergangenen Jahren haben die G8-Gipfel in Gleneagles und Heiligendamm beschlossen, die ODA zu steigern. Aber interessieren sich die Steuerzahler überhaupt für Entwicklungszusammenarbeit?
Maxwell: In der britischen Gesellschaft genießt das DfID hohe Akzeptanz. Auch zivilgesellschaftliche Organisationen werden stark unterstützt, besonders bei Katastrophenhilfe, aber auch bei längerfristigen Programmen. Trotz der Rezession beschloss die Regierung, den DfID-Haushalt nicht zu kürzen, sondern sogar zu erhöhen, um 2013 das Ziel von 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung zu erreichen. Auf diese Weise wurde ansonsten nur das Gesundheitswesen vom Sparzwang ausgenommen. Diese Entscheidung war mutig, wurde aber parteiübergreifend unterstützt. Ich finde, Politiker müssen den Menschen die moralische und strategische Notwendigkeit von Entwicklungsthemen nahebringen. Als Premierminister haben Tony Blair und Gordon Brown das getan – und auch David Cameron führt dies fort.
Messner: Auch die Deutschen interessieren sich für Entwicklungsfragen und sind bereit zu spenden. Gleichzeitig stimuliert der internationale Wettbewerb. Diesbezüglich war das DfID gut für das BMZ. Deutsche Politiker sehen, dass das DfID internationalen Einfluss hat und sie wollen, dass dies auch für das BMZ gilt.