Biodiversität
Digitalisierung untergräbt Gewinnbeteiligung
Um genetische Ressourcen – zum Beispiel von Pflanzen oder Korallen – zu verwenden, war früher ein physischer Materialtransfer nötig. Viele der Ressourcen stammten und stammen aus den sehr artenreichen Ländern des globalen Südens. Das 2014 in Kraft getretene Nagoya-Protokoll, ein völkerrechtlich bindender Vertrag, regelt, dass die Herkunftsländer an den Vorteilen und Einnahmen aus der Nutzung ihrer Ressourcen beteiligt werden. Das Verfahren ist unter dem Begriff Access and Benefit-Sharing (ABS) bekannt.
Heute ist es dank neuer gentechnischer und biotechnischer Methoden vielfach möglich, Erbgut zu verändern und neue Organismen zu erzeugen, ohne physisches Material vorliegen zu haben. Es reichen Digitale Sequenz-Informationen (DSI), die in immer größerem Umfang in Gendatenbanken im Internet frei zugänglich sind. Das erleichtert die Arbeit von Wissenschaftlern enorm, kommt aber auch Unternehmen etwa aus der Agrar-, Pharma- oder Kosmetikbranche zugute, die aus DSI neue Produkte entwickeln und mit ihnen Gewinne machen – ohne die Herkunftsländer daran zu beteiligen.
In den Augen von Kritikern ist das Biopiraterie. „Vorher mussten Abkommen und Handelsverträge geschlossen werden, heute kann man das umgehen“, sagt Alejandro Argumedo von der Biodiversitätsstiftung Swift Foundation. „Traditionelle Kenntnisse werden gestohlen, und den indigenen Bevölkerungsgruppen wird die Kontrolle entzogen.“ Der peruanische Aktivist war Gast einer Online-Konferenz zum Thema „Wer profitiert künftig von der biologischen Vielfalt?“, die die Heinrich-Böll-Stiftung Ende Oktober durchgeführt hat.
Ein Beispiel für die kommerzielle Nutzung genetischer Ressourcen ist eine mit DSI veränderte Kartoffel, die resistent gegen Krautfäule sein und in Ostafrika vermarktet werden soll. Die Kartoffel basiert auf der südamerikanischen Sorte Victoria; entwickelt hat sie das internationale Kartoffelzentrum (Centro Internacional de la Papa – CIP) mit Sitz in Peru, das auch das kommerzielle Nutzungsrecht besitzt.
Argumedo kritisiert sowohl die Genmanipulation der Kartoffel als auch die Tatsache, dass die Quechua, die diese Kartoffel über Jahrtausende entwickelt hätten, nicht an den Gewinnen beteiligt werden. „Die Krautfäule zu bekämpfen wäre auch ohne Gentechnik möglich gewesen“, argumentiert er. Die neue Kartoffel sei nur geschaffen worden, „damit einzelne Firmen damit Gewinn machen können“. Laut Argumedo muss sichergestellt werden, dass die Gewinne den indigenen Völkern zugutekommen, die nachweislich die Artenvielfalt erhielten. „Wir brauchen hier mehr Regularien“, fordert er.
Vor allem europäische und in geringerem Maße auch andere Industrieländer erkennen das Problem mittlerweile an, sagt der Wissenschaftler und Berater Edward Hammond. Die Lösung könnte seiner Meinung nach in einem multilateralen Fonds bestehen: „Er böte eine gute Möglichkeit für Vorteilsausgleich.“ Hammond hofft, dass die nichtkommerzielle Wissenschaftsgemeinschaft – die größte Nutzerin digitaler Sequenz-Informationen – die Notwendigkeit dafür einsieht. „Wir haben eine moralische Verpflichtung dazu“, sagt Hammond. Und auch der extreme Verlust von Biodiversität zwinge dazu, eine Lösung zu finden.
Das Thema wird auf der nächsten Vertragsstaatenkonferenz (COP 15) des Übereinkommens über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity – CBD) verhandelt. CBD ist ein völkerrechtlicher Vertrag mit mehr als 190 Vertragsparteien und damit das umfassendste, verbindliche internationale Abkommen im Bereich Naturschutz und Nutzung der natürlichen Ressourcen. Die Konferenz sollte im Oktober dieses Jahres in Peking stattfinden, wurde aber wegen der Coronapandemie auf das zweite Quartal 2021 verschoben. Eine der wichtigsten Fragen dort wird sein, wie Forschung im öffentlichen Interesse – beispielsweise an Impfstoffen – weiter durch freien Zugang zu DSI ermöglicht und gleichzeitig sichergestellt werden kann, dass gewinnorientierte Forschung einen fairen finanziellen Ausgleich bezahlt.