Migration und Bildung
Barrieren im deutschen Bildungssystem
In Deutschland sind geflüchtete Kinder und Jugendliche – wie alle anderen auch – von sieben bis 15 Jahren schulpflichtig und von 16 bis 18 Jahren berufsschulpflichtig. Allerdings sind sie in weiterführenden Schulen unterrepräsentiert. Im Vergleich zu Schülern ohne Zuwanderungsgeschichte und zu anderen Jugendlichen mit Migrationshintergrund gehen deutlich weniger von ihnen auf die Realschule oder das Gymnasium (de Paiva Lareiro, 2019).
Einer der wichtigsten Gründe dafür: Viele Flüchtlingskinder können kaum Deutsch. Sie besuchen deshalb oft nicht den regulären Unterricht, sondern sogenannte Vorbereitungs- oder Willkommensklassen. Dort erhalten sie maximal zwei Jahre lang intensiven Sprachunterricht. Doch zum einen bietet nicht jede Schule eine solche Klasse an, zum anderen unterscheiden sich die Schüler innerhalb einer Klasse bisweilen erheblich hinsichtlich ihres Alters sowie ihres Sprach- und Bildungsniveaus. Das trägt dazu bei, dass Schüler in dieser für sie entscheidenden Phase des Spracherwerbs unter ihren Möglichkeiten bleiben.
Nach den Vorbereitungsklassen können die Schüler je nach Alter, Fähigkeiten und beruflichen Wünschen verschiedene Wege einschlagen. Beispielsweise können sie die Hochschulreife erlangen oder sich im Berufskolleg für eine betriebliche Ausbildung entscheiden. Wer keinen Ausbildungsplatz findet oder noch Berufsorientierung benötigt, landet im sogenannten Übergangsbereich. Hier nehmen die jungen Leute an verschiedenen berufsvorbereitenden Maßnahmen teil, können aber keinen Abschluss erwerben.
Laut der Bertelsmann Stiftung sind Jugendliche ohne deutschen Pass bei der Suche nach einer Ausbildung im Nachteil und nehmen doppelt so oft eine Maßnahme im Übergangsbereich auf wie deutsche Jugendliche. Dabei würden sie auf dem Arbeitsmarkt dringend gebraucht: Das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen war 2019 in Deutschland höher als die Nachfrage (BIBB 2020).
Unübersichtliches Angebot
Da Bildungspolitik in Deutschland Ländersache ist, und es für den Übergangsbereich keine bundesweit einheitlichen Vorgaben gibt, ist das Angebot breit und teils unübersichtlich. Ausländische Eltern und ihre Kinder sind damit oft überfordert – wie mit dem gesamten deutschen Bildungssystem. Viele kennen weder den Unterschied zwischen Gymnasium, Gesamtschule und Berufskolleg, noch das deutsche Ausbildungssystem und seine drei Säulen: die duale Ausbildung in Schule und Betrieb, das Schulberufssystem und den erwähnten Übergangsbereich.
So meinen einige Eltern, die Universität sei die einzige Möglichkeit für ihre Kinder, eine sichere Arbeit zu finden. Gleichzeitig verstehen manche nicht, dass nicht alle Abschlüsse Hochschulzugang garantieren, oder dass es schwer ist, ohne sehr gute Sprachkenntnisse das Abitur zu machen. Auch bürokratische Abläufe tragen zur Verwirrung bei, beispielsweise muss man sich jedes Jahr neu auf das Berufskolleg bewerben. Hinzu kommt: Geflüchtete Eltern haben oft hohe Erwartungen an die schulische Leistung und Berufswahl ihrer Kinder, und setzen diese damit unter Druck. Zugleich können sie ihre Kinder in der Regel kaum unterstützen, weil sie selbst das hiesige Bildungssystem und den Arbeitsmarkt während der ersten Zeit nach der Auswanderung noch nicht gut kennen. Umgekehrt übernehmen sogar häufig ältere Kinder Verantwortung ihren Eltern gegenüber, etwa als Sprachmittler bei Behördengängen.
Weitere wichtige Aspekte, die den Werdegang von geflüchteten Kindern und Jugendlichen beeinflussen, sind neben ihrer Wohnsituation, ihrer Rechtslage und dem Bildungsniveau der Eltern auch:
- ihr Alter bei der Auswanderung und die Regelmäßigkeit des vorherigen Schulbesuchs,
- Belastungen auf der Flucht,
- die Umorientierung in mehreren Lebensbereichen zugleich (Sprache, Gewohnheiten, Freundeskreis, schulisches Umfeld),
- die Anerkennung ihrer Vorkenntnisse und Abschlüsse und
- ihre oft insgesamt prekäre Lebenssituation.
Das deutsche Schulwesen trägt für diese jungen Menschen eine besondere Verantwortung – nicht nur hinsichtlich ihrer schulischen, sondern auch ihrer sozialen und sprachlichen Integration. Deshalb sollten die zuständigen Ministerien:
- mehr Ressourcen für Vorbereitungs- und Förderklassen bereitstellen und einen kleineren Betreuungsschlüssel ansetzen (fünf bis sieben Schüler pro Klasse, statt 15 bis 20),
- in der Arbeit mit den Eltern deren Sprachbarriere und fehlende Kenntnisse über das deutsche Schulsystem stärker berücksichtigen,
- Schülern und ihren Eltern unabhängig von ihrer Herkunft besser bei der beruflichen Orientierung helfen.
Darüber hinaus gilt es, Neuzugewanderten den Schulbesuch auch nach dem 18. Lebensjahr unbürokratisch zu ermöglichen – vor allem, wenn kein Schulabschluss vorliegt oder wenn das ausländische Zeugnis nicht anerkannt wird. Berufsschulpflichtige Geflüchtete sollten zudem sprachlich besonders gefördert werden, weil sie weniger Zeit haben, sich auf den Übergang von der Schule in den Beruf vorzubereiten.
Eine gute Schulbildung öffnet Geflüchteten die Tür zum Aufnahmeland und zur persönlichen und beruflichen Entwicklung. Fehlende Sprachkenntnisse, schlechte Berufsorientierung und mangelhafte Kenntnisse des Bildungssystems reduzieren dagegen ihre Chancen auf Teilhabe. Deutschland braucht aufgrund seiner demografischen Entwicklung Arbeitskräfte aus dem Ausland. Allein schon deshalb sollte die Gesellschaft ein Interesse daran haben, junge Geflüchtete besser in ihr Bildungssystem zu integrieren als bisher.
Quellen
Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB): Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2020.
https://www.bibb.de/dokumente/pdf/bibb_datenreport_2020.pdf
de Paiva Lareiro, C., 2019: Ankommen im deutschen Bildungssystem. Bildungsbeteiligung von geflüchteten Kindern und Jugendlichen. Ausgabe 02/2019 der Kurzanalysen des Forschungszentrums Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg.
https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Kurzanalysen/kurzanalyse2-2019-ankommen-im-deutschen-bildungssystem.html?nn=404000
Sabrina Ferraz Guarino hat Sprach- und Europawissenschaften mit Schwerpunkt Migration und Integration studiert. Sie ist Beraterin im Jugendmigrationsdienst der Katholischen Jugendagentur Bonn.
ferraz.guarino@gmail.com