Langzeit-Flüchtlinge
Leben im Stillstand
Bei Sonnenuntergang schlendern junge Flüchtlinge die Kakuma-Lokichoggio Straße entlang. Sie führt aus dem Lager in Richtung Süden zur rund 130 Kilometer entfernten sudanesischen Grenze. Der malerische Anblick trügt – die Jugendlichen sind hoffnungslos. Sie haben kaum Perspektiven und stehen in harter Konkurrenz mit den vielen anderen, die auf die geringe Chance hoffen, das Lager zu verlassen.
Kakuma ist größer als viele kenianische Städte, aber das Leben hier ist völlig anders. Die Menschen müssen für die ihnen zugeteilten Lebensmittel anstehen. Es fehlt an Arbeitsplätzen und Schulen (siehe Kasten „Ein deprimierendes Lager im Nordwesten Kenias“). Tausende Menschen haben absolut nichts zu tun. Ihr Leben wird zur monotonen Routine ohne Ambitionen, Hoffnungen und Träume. Dies gilt vor allem für junge Leute: Ihr Leben fängt gerade erst an, aber sie haben kaum Chancen, es in die eigenen Hände zu nehmen und zu selbstständigen Erwachsenen zu werden.
Theoretisch sollen die Menschen nur für ein paar Monate im Lager leben, ehe sie in ihre Heimat zurückkehren oder in Drittländer umgesiedelt werden. In Wirklichkeit bleiben sie aber durchschnittlich zehn Jahre in Kakuma. Viele werden depressiv. Der Verlust von Würde, Identität und Zugehörigkeit nimmt ihren Lebensmut. Sie würden ihre Situation gerne verändern, können es aber nicht. Langzeitflüchtlinge sind besonders gefährdet, depressiv zu werden.Die meisten Menschen, die vor Verfolgung, Gewalt und Tod fliehen, glauben, bald wieder heimzukehren. Erst im Lager begreifen sie, dass ihr altes Leben vorbei und was auch immer sie hatten verloren ist. Im Lager sind sie keine Individuen mehr. Sie verlieren ihre Würde (siehe Kasten „Verlust der Würde“) und sind nurmehr eine Nummer.
Prekäre Schulen
Den Erwachsenen fällt es oft schwer, auf Wohltätigkeit angewiesen zu sein. Die Jugendlichen wollen endlich leben, doch das Lagerleben hindert sie daran. Bildung ist der einzige Ausweg – aber diesen zu begehen ist für sie schwieriger als in einer normalen Stadt.
In Kakuma gibt es verschiedene Bildungseinrichtungen für Kinder. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) finanziert 20 Grundschulen, die örtliche Gemeinde betreibt eine gemeindebasierte Schule. Dennoch wurden 2012 laut UNHCR nur etwa 45 Prozent der Kinder im Grundschulalter eingeschult. Eine Klasse in der Grundschule umfasst bis zu 200 Schüler, in der Sekundarschule durchschnittlich 80. Eine Umfrage des UNHCR, der Windle Trust Kenia und des Lutherischen Weltbundes von 2014 zeigte, dass etwa die Hälfte der Kinder noch immer nicht zur Schule geht. Außerdem waren die Schüler im Durchschnitt zu alt für ihre Jahrgangsstufe.
Die Schüler müssen nach kenianischem Lehrplan lernen – auf Englisch und Kiswahili. Viele können beide Sprachen nicht, und die Lerninhalte haben nichts mit ihrer Lebensrealität zu tun. Eine aktuelle Studie im Journal on Education in Emergencies bringt es auf den Punkt: „Mangel an finanziellen und materiellen Mitteln, restriktiver Lehrplan und Sprachpolitik sowie fehlender Zugang zu Lehrerausbildung führen zu einer Bildungskrise für Flüchtlinge in Kenia.“
Dennoch schneiden die Schüler aus Kakuma in Prüfungen besser ab als der kenianische Durchschnittsschüler. Athok Achol Buoi etwa geht auf die Angelina-Jolie-Grundschule. Auf dieser nach der US-Schauspielerin benannten und von ihr über das UNHCR geförderten Schule erreichte das Mädchen 418 von 500 Punkten im Kenya Certificate of Primary Education.
Wenn Flüchtlingskinder zur Schule gehen, pauken sie meist besonders hart, weil sie wissen, dass sie es nur mit guten Noten raus aus dem Lager schaffen können. Aber dazu brauchen sie eines der heißbegehrten Stipendien.
Enttäuschte Hoffnungen
Kakuma wird von der Abteilung für Flüchtlingsfragen (DRA) verwaltet. Diese kenianische Regierungsagentur arbeitet mit dem UNHCR zusammen und wird von diesem unterstützt. Es gibt jedoch noch viele weitere karitative Organisationen, die sich ebenfalls auf Bildung konzentrieren.
Der Windle Trust Kenia verwaltet – unterstützt vom kanadischen World University Service, dem UNHCR, der DD Puri Foundation und der deutschen Albert-Einstein-Stiftung – mehrere Stipendienprogramme. Rund 40 Stipendien werden an begabte Flüchtlinge vergeben, damit diese in ihrem Gast- oder Herkunftsland studieren können. Für die kanadischen Stipendien liegt die Altersgrenze bei 25, für die deutschen bei 28 Jahren.
Der Wettbewerb um diese Stipendien ist gnadenlos. Jedes Jahr bewerben sich Hunderte von Schülern aus Kakuma für die rund 40 Stipendien, die der Windle Trust Award vergibt. Sie können sich bis zu dreimal bewerben, doch die meisten bekommen keine dieser kostbaren Förderungen. Die Hoffnung, das Lager zu verlassen, zerschlägt sich damit für immer.
Mitarbeiter des Windle Trust Kenia erleben herzzerreißende Szenen, wenn die Schüler erfahren, dass sie abgelehnt wurden. Manche werden wütend und wollen wissen, warum sie abgelehnt wurden. Andere sind am Boden zerstört, wie etwa ein junges somalisches Mädchen, das weinte: „Was soll ich jetzt tun? Wenn ich hier nicht rauskomme, werde ich bald verheiratet. Aber ich bin zur Schule gegangen, ich weiß, es gibt eine Welt da draußen, an der ich teilhaben und die ich kennen lernen will, statt als Hausfrau in veralteten kulturellen Strukturen gefangen zu sein. Ich möchte heiraten, wenn ich meinen Kindern ein besseres Leben bieten kann als das, was ich hier habe. Ich habe so hart dafür gearbeitet. All meine Hoffnungen lagen in diesem Stipendium, nur um aus dem Lager herauszukommen!“
Einige brechen weinend zusammen, manche denken an Selbstmord. Ein junger Südsudanese fragte: „Sag mir, was soll ich mit mir anfangen, was gibt es denn für Leute wie mich? Dies ist mein dritter erfolgloser Versuch in drei Jahren. Ich habe Angst, dass ich hier bald aus Hoffnungslosigkeit sterbe, weit weg von zuhause, und mitsamt all meinen Träumen, Hoffnungen und Sehnsüchten begraben werde. Ich möchte wenigstens eine halbe Chance auf ein Leben, ich möchte eine Ausbildung, einen Job, Frau und Kinder, aber nicht hier!“
Es ist belastend, all diese intelligenten jungen Menschen zu sehen, die keine Chance haben, ihre Talente zu nutzen. Humanitäre Helfer erleben eine ganze Generation, die im Stillstand lebt, und sie können nicht helfen. Michelle Bellino von der University of Michigan machte kürzlich eine Erhebung zu Bildungschancen in Kakuma. Sie zieht das Fazit einer „Tragödie, in der begabte Menschen in die ewige Mittellosigkeit geraten.“
Da es immer mehr neue humanitäre Krisen gibt, wird die Finanzierung von Bildungsstipendien schwieriger. Für die „alten Fälle“ in Kakuma werden die Aussichten immer düsterer.
Die Geberländer müssen deutlich mehr tun, um Flüchtlingslager zu unterstützen. Es ist inakzeptabel, dass die Hälfte der jungen Generation nicht formal ausgebildet wird. Und es ist inakzeptabel, dass selbst diejenigen, die sich sehr anstrengen, keine Chancen haben. Aufnahmeländer wie Kenia haben nicht die Mittel, die Probleme selbst zu lösen.
Manche westlichen Regierungen versprechen Visa für Langzeit-Flüchtlinge. Aber kaum ändert sich die politische Lage, ist davon keine Rede mehr. 1999 etwa wurde eine große Gruppe von Somali aus dem Dadaab-Lager für eine Umsiedlung nach Kakuma und eine mögliche Neuansiedlung in westlichen Ländern ausgewählt. Nach dem 11. September 2001 wurden die Visaverfahren in den meisten Ländern viel strenger und die Aufnahmebereitschaft gegenüber Ostafrikanern wurde geringer. Die Hoffnungen der Menschen zerschlugen sich. Viele leben noch heute, 14 Jahre später, im Lager.
Raphael Sungu ist Programm-Manager einer humanitären Organisation. Er lebt im Flüchtlingslager Kakuma in Kenia.
rsungu@windle.org
Links:
The Windle Trust:
http://www.windle.org
World University Service of Canada (WUSC) – Student Refugee Program:
http://wusc.ca/
Albert Einstein German Academic Refugee Initiative Fund:
http://refed.org/