Krisenregionen
Vergessene Prinzipien
Ungefähr ein Drittel der weltweiten offiziellen Entwicklungshilfe (ODA – official development assistance) geht an fragile Staaten. Nach der Definition der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), einem Zusammenschluss reicher Nationen, fehlt fragilen Ländern der politische Wille oder die Fähigkeit, die Armut zu bekämpfen, Entwicklung voranzutreiben und die Menschenrechte zu schützen. „Zerbrechliche“ Staaten können oft ihr Gewaltmonopol nicht vollständig durchsetzen; es fehlt an grundlegender Infrastruktur und Verwaltung. Hohe Kriminalität, Selbstjustiz und Willkürherrschaft der jeweils Stärkeren sind die Folgen.
Entwicklungszusammenarbeit ist in solchen Staaten besonders schwierig und zugleich bitter nötig. Oft arbeiten die Helfer dort unter sehr unsicheren, teilweise lebensgefährlichen Bedingungen, denn sie sind durch Gewaltausbrüche oder Putsche bedroht. Entwicklungshilfe soll den Aufbau staatlicher Institutionen vorantreiben und grundlegende Reformen anstoßen. Doch die Verantwortlichen aus den Agencies können ihre selbstgesetzten Maßstäbe nicht befolgen und beispielsweise Vorhaben mit Auftragnehmern aus dem Zielland umsetzen. Wenn es dort keine geeigneten Fachleute und Firmen gibt, müssen welche aus den Geber- oder Nachbarstaaten beauftragt werden. Das zieht den Aufbau von Parallelstrukturen nach sich.
Viele Experten aus Praxis und Wissenschaft schätzen die Akteure der Entwicklungspolitik in fragilen Staaten als bevormundend oder nicht wirksam ein. Oft werde der lokale Kontext nicht genügend beachtet und mehr Schaden angerichtet, als Positives bewirkt.
Zudem gibt es oft Schwierigkeiten, sicherheitspolitische und entwicklungspolitische Ziele in Einklang zu bringen. In vielen fragilen Staaten sind internationale Peacekeeper präsent. Das primäre Ziel dieser Truppen und ihrer Befehlshaber ist Sicherheit. Es kommen Interessen ins Spiel, die nicht ausschließlich der Entwicklung des Landes gelten.
Das Development Assistance Committee (DAC) der OECD kennt diese Probleme und hat deshalb 2007 zehn „Prinzipien für internationales Engagement in fragilen Staaten und Situationen“ kurz „Fragile State Principles“ (FSPs) verabschiedet (siehe Kasten).
Die Prinzipien wurden in Zusammenarbeit mit Vertretern betroffener Länder in dem Bewusstsein formuliert, dass fragile Staaten eine Entwicklungspolitik brauchen, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Ziel ist es, positive Effekte internationalen Engagements zu maximieren und möglichen Schaden zu minimieren. Dafür muss präzise analysiert werden, was in der jeweiligen Situation gebraucht wird und was nicht. Vor dem Einsatz in einem Land sollen Risikoanalysen durchgeführt werden. Aus negativen Erfahrungen soll gelernt werden.
Keine Umsetzung
Mit den FSPs können sicher nicht alle Probleme der Entwicklungspolitik in fragilen Staaten beseitigt werden. Aber selbst kleine Erfolge lassen sich kaum feststellen. Die Geberländer befolgen sie nämlich kaum, wie die OECD 2011 in einer Studie feststellte. Demnach finden acht von zehn Prinzipien praktisch keine Beachtung.
Prinzip 6 (Nichtdiskriminierung und Geschlechtergleichstellung) wird laut OECD als einziges erfüllt (broadly on-track), und Fortschritte gibt es bei Prinzip 7 (Kooperation mit lokalen Instiutionen). Die anderen werden entweder gar nicht oder nur ungenügend von den Gebern befolgt. Eine Evaluierung des Handelns einzelner Geber wurde leider nicht veröffentlicht.
Die Principles passen zu den übrigen international vereinbarten Grundsätzen wie etwa den Millenniumsentwicklungszielen (MDGs) oder der Paris Declaration on Aid Effectiveness. Die OECD hat die Fragile State Principles in einen größeren normativen Rahmen eingebettet. In der Praxis können diese Richtlinien allerdings schon mal konkurrieren.
So haben die MDGs einen starken Fokus auf Armutsbekämpfung. Themen wie fragile Staatlichkeit und Good Governance klammern sie aus. Die OECD warnt in ihrer bereits erwähnten Studie davor, dass sie nicht geeignet sind, die Kernprobleme fragiler Staaten anzugehen. Um die MDGs in diesen Ländern nachhaltig umzusetzen, reicht Armutsbekämpfung nicht aus. Sie sind jedoch deutlich bekannter als die Fragile State Principles. Regierungen werden sich eher an den MDGs als an den Fragile State Principles orientieren.
Die FSPs stehen in direktem Zusammenhang mit der Debatte zur Aid-Effectiveness. Sie wurde von der OECD angeregt, um die Wirksamkeit der Entwicklungspolitik zu verbessern (siehe Schwerpunkt in E+Z/D+C 2012/02). 2005 entstand daraus die Paris Declaration, die seitdem maßgeblich ist. Kurz zusammengefasst beinhalten ihre fünf Prinzipien:
- eine stärkere Eigenverantwortung der Partnerländer (Ownership),
- eine bessere Ausrichtung von Entwicklungshilfe an den Strukturen des Partnerlandes (Alignment),
- eine bessere Koordination der Geber untereinander (Harmonisation), – die Ausrichtung auf Ergebnisse anstatt auf den Mittelaufwand (Managing for Results) und
- eine gegenseitige Rechenschaftspflicht (Mutual Accountability).
Allerdings werden die Geber nicht regelmäßig danach bewertet, ob sie sich an die FSPs halten. Bei den MDGs wird sehr viel genauer auf die Ergebnisse geachtet. Das gilt auch für die Aid-Effectiveness-Kriterien der Paris Declaration, an die sich freilich Entwicklungsländer generell enger halten als Gebernationen, wie die Evaluierungen gezeigt haben.
Aus der deutschen Entwicklungspolitik ist keine kritische Stimme zu den Fragile State Principles zu vernehmen – ebenso wenig wie aus der Wissenschaft. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) stützt seine Politik sogar ausdrücklich auf die Fragile State Principles. Das zeigen mehrere Konzepte aus den Jahren 2007, 2012 und 2013 (siehe Quellen). Die Bundesregierung ist auch Mitglied im 2009 gegründeten International Network on Conflict and Fragility der OECD. Es soll für den DAC Expertise bündeln, Maßnahmen koordinieren und den Dialog zwischen Gebern und Partnerländern fördern.
Die OECD hat Deutschland zuletzt 2010 ausführlich evaluiert. Im entsprechenden Bericht (http://www.oecd.org/berlin/46270433.pdf) lobt die OECD sowohl die direkte Umsetzung der FSPs in nationale Politik als auch das deutsche Engagement im INCAF. Kritisiert wird aber eine mangelnde Kohärenz und Verzahnung der einzelnen Bereiche (S. 35). Darauf hat das BMZ zum Beispiel mit der Veröffentlichung des ressortübergreifenden Strategiepapiers (BMZ 2012) teilweise reagiert. Die OECD hält Deutschland auch vor, dass es seine ODA-Leistungen auf Länder mit mittlerem Einkommen konzentriert (S. 56), die meist nicht fragil sind.
Dass die FSPs international zu wenig beachtet werden, liegt vermutlich vor allem daran, dass über sie nicht gesprochen wird, weder in positiver noch in negativer Weise. Sie finden im Gegensatz zu anderen Vereinbarungen und Richtlinien im medialen und wissenschaftlichen Diskurs keine ausführliche Erwähnung. Für die Politik bedeutet das, dass es wenig Druck gibt, sie umzusetzen.
Die Fragile State Principles gehen in der Flut von anderen Richtlinien und Vereinbarungen, die als wichtiger erachtet werden, einfach unter. Es ist wohl auch einfacher, sich anderen entwicklungspolitischen Themen zu stellen, als der Bekämpfung staatlicher Fragilität.
Seit dem Erstellen der OECD-Studie hat sich auch schon einiges getan. Das neueste Strategiepapier des BMZ gibt Hoffnung, dass Deutschland Defizite beheben wird. Es wäre aber förderlich, die FSPs nicht nur in Strategiepapieren aufzugreifen, sondern sie im breit angelegten entwicklungspolitische Diskurs zu propagieren – in Deutschland und in internationalen Foren.
Vera Dicke studiert Friedens- und Konfliktforschung in Darmstadt und Frankfurt und hat ihre Bachelorarbeit an der TU Darmstadt über die Umsetzung der Fragile State Principles geschrieben.
mail@veradicke.de