Humanitäre Krise
Flüchtlinge in Ecuador
[ Von Linda Helfrich ]
Zwischen 2000 und 2008 gingen 62 000 Asylanträge ein. Trotz der zunächst liberalen Asylpolitik und der Vergabe von rund 18 000 Visa leben in Ecuador viele kolumbianische Flüchtlinge ohne formalen Aufenthaltsstatus. Teilweise können sie nicht in ihre Heimat zurückkehren.
Im Juni 2008 hatte Ecuador die visafreie Einreise erlaubt, schon im Dezember aber die Bestimmungen für Kolumbianer wieder verschärft und ein polizeiliches Führungszeugnis verlangt.
Gewillt, ein neues Leben aufzubauen, überqueren die Flüchtlinge die Grenze illegal, ohne ihre Rechte zu kennen. Sie wohnen nicht in Camps, sondern gehen zu Verwandten oder schlagen sie sich irgendwie anders durch. Einige befürchten, deportiert zu werden, wenn sie sich als Asylsuchende registrieren lassen. Andere können sich die Reise zu den Büros des UN-Flüchtlingsrats (UNHCR) oder zu den zentralen Registrierstellen für Flüchtlinge in Quito, Cuenca oder Lago Agrio nicht leisten. Doch die Migrationsgesetzgebung Ecuadors ist vorbildlich: Es gibt eine nationale Flüchtlingspolitik, die auf der internationalen Flüchtlingskonvention beruht. Ecuador war das erste lateinamerikanische Land, das das Estatuto de los Refugiados von 1951 ratifizierte und auf Basis der Erklärung von Cartagena von 1984 arbeitet. Darin werden bewaffnete Konflikte, massive Verletzung von Menschenrechten, aber auch geschlechtsspezifische Verfolgung sowie Missachtung sozialer Rechte als Asylgrund gewertet. Die staatlichen Angestellten wendeten die Richtlinien großzügig an. Da die normalen Visaanträge aber nicht schnell genug bearbeitet werden konnten, entstanden monatelange Wartezeiten.
Neue Anerkennungspolitik
Seit April 2009 gilt in den nördlichen Provinzen deshalb eine neue Anerkennungspolitik. Es wird nicht mehr jeder Einzelfall geprüft, das Verfahren wird durch so genannte registros ampliados auf einen Tag reduziert. Die Flüchtlinge müssen weniger Dokumente und auch kein polizeiliches Führungszeugnis mehr vorlegen. Um weite Anreisen zu vermeiden, schicken die Behörden auch Mitarbeiter in die Dörfer. Seit April 2009 sollen 5500 Kolumbianer mit Hilfe des UNHCR den Flüchtlingsstatus erhalten haben.
Diese Praxis ist in Lateinamerika bisher einzigartig. Ecuador kann, indem es die Konflikte im Ursprungsland anerkennt, einer ganzen Gruppe von Personen den Flüchtlingsstatus verleihen. Diese haben dann die gleichen Rechte auf Bildung und Gesundheit wie Ecuadorianer. Der UNHCR gibt ihnen Reis, Zucker, Sardinen und Linsen. Putzmittel, Matratzen, Gas zum Kochen, Kochtöpfe und Teller gehören zur Grundausstattung.
Dennoch ist das Andenland kaum auf diesen Ansturm vorbereitet. Die internationale Staatengemeinschaft reagiert zögerlich und die steigende Kriminalität fördert Ressentiments gegenüber Kolumbianern. Gelegentlich kommt es zu polizeilichen Übergriffen, willkürlichen Verhaftungen und dergleichen. Die nördlichen Provinzen Esmeraldas, Carchi, Imbabura, Sucumbíos und Orellana haben nicht die Infrastruktur, um diese Menschen aufzunehmen. Ihnen fehlt es zum Teil selbst am Nötigsten: an Trinkwasser, Elektrizität und Schulen. Besonders in den Grenzregionen wird dann Drogenhandel zu einer wichtigen Option. Manch ein Flüchtling ist selbst Kleinkrimineller, Guerillaangehöriger, oder in das Drogengeschäft involviert.
Wichtiges Transitland
In Ecuador selbst werden kaum Drogenpflanzen angebaut. Da es aber zwischen den zwei größten Kokaproduzenten – Kolumbien und Peru – liegt, gilt es als wichtiges Transitland, durch das die Kokain-Route in den Süden Lateinamerikas führt. Die 640 Kilometer lange Grenze zwischen Ecuador und Kolumbien ist durchlässig, schätzungsweise ein Drittel des kolumbianischen Kokains wird durch Ecuador geschleust. Über die Häfen gelangt es in alle Welt.
Auf der anderen Seite der Grenze liegen die kolumbianischen Hauptanbauregionen. Trotz verschärfter Besprühung aus der Luft im Rahmen des Drogenvernichtungs- und Aufstandsbekämpfungsplans „Plan Colombia“ wurde in den letzten Jahren in den Bundesstaaten Nariño und Putumayo fast die Hälfte des kolumbianischen Kokas angebaut. Vor allem in Tumaco und Puerto Asís agieren zahlreiche neue Drogenhandelsorganisationen, die neben dem Geschäft mit dem „weißen Gold“ eine Reihe anderer illegaler und semi-legaler Aktivitäten betreiben – nicht erlaubte Bankgeschäfte oder Taxiunternehmen und Waffenschmuggel.
Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme sind auf beiden Seiten der Grenze groß. Formale Arbeitsplätze und Schulen fehlen, die Gesundheitsversorgung ist schlecht. Tagelöhner aus Ecuador arbeiten in der Kokaproduktion in Kolumbien. Kolumbianische Bauern haben Verwandte im südlichen Nachbarland. Einige kolumbianische Drogenbauern und -händler sind aus der mit Herbiziden besprühten Regionen nach Ecuador ausgewichen.
Repressive Drogenbekämpfung
Um den Drogenanbau zu unterbinden und die Guerilla zu bekämpfen, haben die USA und Kolumbien 1999 den „Plan Colombia“ gestartet und damit vor allem auf repressive Drogenbekämpfung und Law Enforcement gesetzt. Der US-Rechnungshof evaluierte den Plan im Oktober 2008 und kam zu einer ernüchternden Einschätzung: Die Sicherheitslage in Kolumbien sei zwar besser, das Ziel, die Produktion von Kokain von 2000 bis 2006 um die Hälfte zu reduzieren, aber kläglich gescheitert.
Auch in Kolumbien werden die Stimmen immer lauter, dass die Sprühaktionen aus der Luft sinnlos sind. Antonio Navarro, ehemaliger Guerillero der Organisation M19, später Bürgermeister der Provinzhauptstadt Pasto und nun Gouverneur des Bundesstaates Nariño, hat daher den regionalen Entwicklungsplan „Adelante Nariño“ entworfen. Drogenanbau und
-Bekämpfung hatten für das früher friedliche Nariño verheerende Folgen. In der überwiegend von Afrokolumbianern bewohnten Küstenstadt Tumaco ist die Gewaltrate hochgeschnellt: Auf 100 000 Bewohner kommen 151 Morde im Jahr. Im nationalen Durchschnitt sind es 36.
Navarro handelte nach seinem Amtsantritt mit der Regierung Uribe einen temporären Stopp der Luft-Besprühungen und manuelle Eradikation aus. Sein Entwicklungsplan soll zwischen 2008 und 2012 die Lage im Süden des Landes verbessern. Dann kann die Regionalregierung zeigen, ob sie die Entwicklungsprobleme in Südkolumbien in den Griff bekommt.
Ecuador hat schon im April 2007 den „Plan Ecuador“ entworfen, um den Problemen der nördlichen Region vor allem mit Entwicklungsmaßnahmen zu begegnen. Zu den von Rafael Correa vorgesehenen 135 Millionen Dollar sollte sich dessen Gesamtvolumen – mit Hilfe internationaler Finanzpartner – auf 270 Millionen Dollar belaufen. Die Zusagen kamen jedoch zögerlich. Kanada und Südkorea waren an dem auf 12 Jahre angelegten Langzeitplan interessiert, die internationale Gemeinschaft insgesamt aber reagierte zurückhaltend.
„Kultur des Friedens“ angestrebt
Die Regierung in Quito will so die negativen Folgen des kolumbianischen Konfliktes und der Drogenbekämpfungspolitik kompensieren. Der Staat Ecuador soll in zehn Regionen präsenter, Ecuadorianer und Kolumbianer in der Grenzregion sollen bessere sozialpolitische Leistungen erhalten. Dort leben viele Menschen von weniger als einem Dollar am Tag.
Aber es geht auch um die institutionelle Stärkung des Staates, um mehr Sicherheit, Arbeitsplätze, Infrastruktur und Umweltschutz. Es soll eine „Kultur des Friedens“ entstehen. Das Justizministerium will den Zugang zur Justiz durch alternative Konfliktschlichtungsmechanismen, Friedensrichter und außergerichtliche Schlichtungsverfahren verbessern. Die Regierung sorgt für Kleinunternehmerkredite, von denen auch die Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen in der Region profitieren können. Der Staat will dem Flüchtlings- und Drogenproblem vorbeugen, um die menschliche Sicherheit zu erhöhen – ein ambitioniertes Anliegen.
Es gibt jedoch zunehmend Kritik an der Regierung Correa und dem Plan Ecuador. Die Bevölkerung habe zu wenig davon, auch Vorwürfe von Korruption und Intransparenz wurden laut. Unter den Kritikern sind Gewerkschaften, indígenas und Umweltverbände – einstige Weggefährten Correas.
Nach ihrer Wiederwahl im April 2009 hat dessen Regierung nun Zeit, die humanitäre Krise zu bewältigen, Gewalt zu mindern und organisierte Kriminalität einzudämmen. Gelingt das, könnten der Plan Ecuador und sein „desarrollo alternativo preventivo“ ein Vorbild für ganz Lateinamerika werden. Scheitert die Regierung, wäre das Wasser auf die Mühlen derer, die „law enforcement“ in den Mittelpunkt ihrer Strategien zur Drogen- und Verbrechensbekämpfung stellen.