Wirtschaftspolitik
Eingriff in die Souveränität des Staates
Die Vergabe von Krediten ist fast immer an Konditionen gebunden. Allenfalls unter Freunden wird bedingungslos Geld verliehen. So gesehen ist die Konditionierung von Krediten weder außergewöhnlich noch verwerflich.
Bei der Kreditvergabe an Staaten entstand aber in dem Moment eine besondere Situation, als erst andere Regierungen und später auch internationale Finanzinstitutionen bei Zahlungsbilanzproblemen als Geldgeber auftraten. Dies geschieht per Definition nur in Krisensituationen, wenn die Solvenz des Schuldners nicht feststeht – sondern gesichert werden muss. Folglich mussten die Gläubigerstaaten oft umfassenden Strukturanpassungsmaßnahmen zustimmen, die ihre Wirtschaftskraft sichern sollten. Allzu oft erzielten diese aber nicht die erwünschte Wirkung.
Kredite zur Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit dienen nicht der Entwicklungsfinanzierung. Die Konditionierung kann sich also nicht auf ein bestimmtes Einzelvorhaben beziehen, sondern betrifft die allgemeine Wirtschaftspolitik. Die Perspektive ist makroökonomisch. Empfängerregierungen müssen sich anstrengen, um die Wirtschaftsleistung zu steigern und die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren. Laut Arbeitsteilung der internationalen Finanzinstitutionen (international financial institutions – IFIs) und der bilateralen Geber definiert der Internationale Währungsfonds (IWF), wie diese Anstrengungen aussehen sollen.
In den schlimmsten Fällen sind Länder untragbar hoch verschuldet. Dann kann ihre fiskalische Handlungsfähigkeit nicht allein durch Neukredite und Anpassungsmaßnahmen wiederhergestellt werden. Schuldenerlass wird nötig. Als Voraussetzung dafür fordern die Geber in der Regel weitere Strukturanpassungen.
Im Prinzip könnte allein die Fähigkeit, Schulden künftig wieder zu bedienen, Kriterium für Konditionen sein. Denn über die Erfüllung der vertraglichen Zahlungsverpflichtungen hinaus sollte jeder Kreditgeber eigentlich die staatliche Souveränität der Schuldnerregierung respektieren. Tatsächlich bietet der IWF mit seiner „Flexible Credit Line“ solche Darlehen an – allerdings nur einem sehr kleinen Kreis potenziell unproblematischer Kreditnehmer.
Umgestaltung der Volkswirtschaft
In der Praxis zielen Anpassungsprogramme auf viele weitere Dinge ab. Meist gehen sie von der Frage aus, warum ein Schuldner zahlungsunfähig ist. Diese Frage ist grundsätzlich sinnvoll – wurde aber zum Einfallstor für die Umgestaltung der gesamten Volkswirtschaft entsprechend marktradikaler Orthodoxie. Konventionelle Strukturanpassungsprogramme betonen Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung.
Die Führungsrolle des IWF hat sich dabei vielfach als problematisch erwiesen. Besonders in den 1980er und 1990er Jahren, als viele traditionelle Strukturanpassungsprogramme formuliert wurden, übernahm der Fonds mit seinem Stab makroökonomisch geschulter Experten das Mikromanagement von Bereichen, von denen er nachweislich keine Ahnung hatte. So betrachteten etwa IWF-Ökonomen Primarschulbildung lediglich als Kostenfaktor – und nicht als Investition in die Jugend, von der die Aufstiegschancen wirtschaftlich schwächerer Bevölkerungsgruppen abhängen. Dass Ungleichheit Wachstum bremst, wurde ebenfalls systematisch übersehen. Solche Kritik hat mittlerweile sogar das Independent Evaluation Office (IEO) des IWF selbst formuliert.
Der IWF will heute solche Feinjustierungen nicht mehr übernehmen. In der Praxis scheint er dieses Versprechen aber nicht komplett zu halten. Das zeigt etwa sein Streit mit Kritikern darüber, ob der vom IWF erzwungene Abbau öffentlicher Gesundheitssysteme zum Ausbruch der Ebola-Krise in Sierra Leone, Liberia und Guinea beigetragen hat.
Der IWF akzeptiert aber grundsätzlich den Vorwurf, dass viele Programme inhaltlich fehlerhaft waren. Er erkennt zudem an, dass er häufig zu viele und zu komplexe Anpassungsmaßnahmen forderte. Seit Anfang dieses Jahrzehnts soll deshalb die Zahl der wirtschaftspolitischen Konditionen pro Programm reduziert werden. Das ist auch tendenziell geschehen: Laut jüngstem IEO-Bericht sank sie von durchschnittlich 9,3 in den Jahren 2003 bis 2007 auf nur noch 6,2 in den Jahren 2010 bis 2017.
Hauptkritikpunkte
Ein Kernproblem der konventionellen Strukturanpassungen ist die überproportionale Kürzung der Sozialausgaben. Wenn öffentliche Leistungen gestrichen werden, sind ökonomisch schwache Bevölkerungsgruppen, die kaum organisiert sind, die Hauptleidtragenden. Dazu gehören zum Beispiel Kleinhändler, Erwerbstätige im informellen Sektor, ungelernte Arbeitskräfte, Kleinbauern und Landlose. Sie bekommen nur selten Transfers nach dem Modell westlicher Sozialstaaten. Da sie vom Staat wenig Leistungen beziehen, muss die Sparpolitik, um überhaupt nennenswerte Summen zu erreichen, also sehr viele Menschen betreffen. Allerdings leiden dieselben Menschen auch indirekt, wenn die staatlichen Ausgaben für die Infrastruktur reduziert werden.
Die betroffenen Bevölkerungsgruppen können sich kaum mit verfassungskonformen Mitteln gegen eine Politik wehren, die ihnen schadet. Deswegen oszillierten ihre Reaktionen in der Vergangenheit oft zwischen Apathie und gewaltsamem Widerstand.
Geradezu ein Klassiker der Strukturanpassungskritik ist, auf die deutliche Senkung der Ausgaben für Bildungs- und Gesundheitswesen hinzuweisen. In vielen Fällen wurde dafür weniger Geld ausgegeben als für den Schuldendienst an internationale Gläubiger. Die globale Entschuldungsbewegung machte daraus ein öffentlichkeitswirksames Narrativ. Es half, die Entschuldungsinitiative armer hoch verschuldeter Länder (Heavily Indebted Poor Countries – HIPC) durchzusetzen, die beim Kölner G8-Gipfel 1999 beschlossen wurde.
Tatsächlich steckten Ende der 1990er Jahre viele Länder in einer Verschuldungsfalle, zu der die Strukturanpassungen beigetragen hatten. Die Änderungen der Wirtschaftspolitik hatten das Wirtschaftswachstum nicht beflügelt, sondern häufig sogar behindert. Der laufende Schuldendienst blieb aber untragbar hoch. Erst die zweite Entschuldungsinitiative (Multilateral Debt Relief Initiative – MDRI), die 2005 gestartet wurde, ließ die ärmsten Länder dieser Falle entkommen.
Ein aktuelles Szenario der Schuldenfalle erleben wir derzeit in Griechenland. Die EU-Gläubigerstaaten diskutieren nach zehn Jahren Krise, Konditionalitäten, Rettungsprogrammen und unzureichenden Schuldenerleichterungen ernsthaft darüber, dass das Land bis 2060 (in manchen Rechenvarianten gar bis ins 22. Jahrhundert) Haushaltsüberschüsse erwirtschaften muss, um Schulden zu bedienen. Solche Konzepte überschätzen systematisch die Wirkung von Strukturanpassungen, unterschätzen aber die Bedeutung öffentlicher Investitionen in Infrastruktur und Sozialpolitik für das Wachstum. Sie erinnern geradezu an die Schuldsklaverei des Altertums. Diese Politik ist gefährlich. Dass der IWF sie in Griechenland nicht mehr mitträgt, spricht für seine Lernfähigkeit.
Mehr oder weniger Ungleichheit?
Beim Kölner G8-Gipfel 1999 wurde beschlossen, die Entschuldungsmöglichkeiten für arme hoch verschuldete Länder zu erweitern und die Anpassungsprogramme zu modifizieren. Dazu sollte aber nicht die „klassische“ Strukturanpassung verändert werden, sondern sie sollte durch ein vom jeweils entschuldeten Land zu erarbeitenden Armutsbekämpfungsprogramm (Poverty Reduction Strategy Paper – PRSP) ergänzt werden.
Das führte mancherorts zu echten Erfolgsgeschichten. Ein Beispiel ist Bolivien, wo die Bevölkerung an Politikformulierung und -gestaltung beteiligt wurde. In solchen Fällen wurde die Gesellschaft umgestaltet. Allerdings stellt eine aktuelle Studie (Sembene, 2015) fest, dass derlei südlich der Sahara kaum gelang. Dort wurde weder die absolute Armut (gemessen am Einkommen des ärmsten Fünftels der Bevölkerung) reduziert noch ging die gesellschaftliche Ungleichheit zurück.
Die klassische Strukturanpassungspolitik der 80er Jahre ging davon aus, dass ein gewisses Maß an sozialer Ungleichheit die Leistungsbereitschaft steigere und entsprechend das Wachstum antreibe. Die genannte Studie zur Umsetzung der PRSPs in Afrika zeigt dagegen, dass große Ungleichheit wachstumshemmend wirkt, obwohl individuell durchaus Anreizeffekte feststellbar sind. Makroökonomisch – und gesellschaftspolitisch – ist allzu große Ungleichheit also kontraproduktiv.
Der IWF hat seinen Diskurs mittlerweile modifiziert. Zwar will er immer noch zu breit angelegte sozialpolitische Ausgaben reduzieren; allerdings sollen die dadurch entstehenden Einsparerfolge geteilt werden zwischen der fiskalischen Konsolidierung einerseits und der stärkeren Fokussierung reformierter Sozialprogramme auf die tatsächlich verwundbarsten Gruppen der Bevölkerung andererseits.
Eine Fokussierung der Sozialpolitik ist durchaus sinnvoll, wenn Sozialleistungen vor allem den Mittelschichten und Eliten zugutekommen. Ein Beispiel dafür sind Treibstoffsubventionen, welche vor allem die begünstigen, die viel Energie verbrauchen – beispielsweise die Eigentümer großer Autos. Allerdings sind die amtlichen Statistiken in vielen Ländern wenig zuverlässig, so dass der IWF die Wirkung einzelner Sozialleistungen kaum belegen kann.
Der IWF hat aus Fehlern Lehren gezogen. Allerdings ist seine Politik auch heute nicht alternativlos. Engagierte zivilgesellschaftliche Organisationen, aber auch multilaterale Institutionen wie die ILO (International Labour Organisation) oder die UN-Wirtschaftskommission für Afrika schlagen andere Programme vor. Dabei sehen sie durchaus, dass interne Defizite in der Wirtschaftsstruktur, der Regierungsführung und der Sozialpolitik Probleme bis hin zur Überschuldung eines Staates verursachen können. Sie betonen aber, dass die Probleme mit anderen Rezepten als marktradikaler Orthodoxie überwunden werden können (siehe Kasten).
Jürgen Kaiser ist Koordinator des zivilgesellschaftlichen Bündnisses erlassjahr.de – Entwicklung braucht Entschuldung.
j.kaiser@erlassjahr.de
Literatur
Internal Evaluation Office (IEO): Structural conditionality in IMF-supported programs – evaluation update. April 2018
http://www.ieo-imf.org/ieo/files/updates/SC%20Update%20-%20Report.pdf
Sembene, D., 2015: Poverty, growth and inequality in Sub-Saharan Africa: Did the walk match the talk under the PRSP Approach; IMF Working Paper 15/122
https://www.imf.org/external/pubs/ft/wp/2015/wp15122.pdf