Rechtspopulismus
Brasilianische Waldlügen
Verheerende Waldbrände tobten im vergangenen Oktober im Amazonasbecken. Indigene und andere ausgegrenzte Menschen waren besonders betroffen. Das ökologische Gleichgewicht der Region ist in wachsendem Maße in Gefahr (siehe Carmen Josse in der Tribüne des E+C/D+C e-Paper 2019/10). Dennoch sagte Bolsonaro bei einem Treffen mit internationalen Investoren in Saudi-Arabien seinerzeit, die Brände beunruhigten ihn nicht. Sie seien vielmehr „typische Praxis“ örtlicher und indigener Gruppen beim Übergang vom Extraktivismus zur Landwirtschaft.
Experten und die breite Öffentlichkeit waren schockiert. Der französische Präsident Emmanuel Macron forderte, Brasilien müsse angesichts der Katastrophe dringend handeln. Umweltschützer in Europa wendeten sich gegen die Ratifizierung eines Handelsabkommens der EU mit der Regionalorganisation Mercosur, wenn dort ökologische Standards nicht eingehalten würden.
Bolsonaro ficht solche Kritik nicht an. Im Herbst bemerkte er nur, ein europäischer Staatschef habe Brasilien wegen der Amazonasfrage kürzlich hart angegriffen. Er bestand darauf, indigene Gruppen legten absichtlich Feuer, weil das ihrem Überleben diene. Deshalb weiche er auch von der Amazonaspolitik vorheriger Regierungen ab. Tatsächlich hatten seine Vorgänger Waldflächen unter Schutz gestellt und indigenen Gemeinschaften überlassen. Solche Regeln setzen aber Brasiliens mächtigen Agrarinteressen, die neue Flächen fordern, enge Grenzen. Tatsächlich profitieren Viehzüchter und Plantagenbesitzer von der Entwaldung.
Ende 2019 fragten sich internationale Beobachter, warum ein Staatschef wissenschaftliche Erkenntnisse leugne, falsche Versprechen mache und über bislang erfolgreiche Politikmaßnahmen lüge. Brasilianern, die ihn schon länger kennen, war dagegen klar, dass er die Öffentlichkeit verwirren wollte, damit sie Waldbrände für etwas Natürliches hält.
Systematische Vernebelung
Rechtspopulisten wie Bolsonaro neigen zu Vernebelung und falschen Behauptungen (siehe Box), denn die empirische Wirklichkeit entspricht nicht ihrer Propaganda. Entsprechend versucht Bolsonaro die Glaubwürdigkeit all derer, die objektive, wissenschaftliche Tatsachen bekanntmachen, zu unterhöhlen.
Schon im August 2019 griff Bolsonaro das Nationale Raumforschungsinstitut (Instituto Nacional de Pesquisas Espaciais – INPE) an. Sie dokumentiert mit Satellitenbildern, wie sich das Land verändert – und zwar auch in den Forstgebieten. Ein INPE-System namens „Deter“ erfasst Entwaldung in Echtzeit. Die Qualität dieses Programms hat unter anderem die US-Raumfahrtbehörde NASA anerkannt.
Dennoch unterstützte Umweltminister Ricardo Salles den Angriff des Präsidenten auf INPE. Beide Politiker behaupteten, sie brauchten bessere, präzisere Daten, und entließen dann Ricardo Galvão, den Physiker in der Spitze des Instituts. Sie lösten damit international Empörung aus. Die große spanische Zeitung El País kommentierte: „Jair Bolsonaro and sein Anti-Umweltminister Ricardo Salles versuchen frech und vor den Augen der ganzen Welt einen eisernen Vorhang auf Entwaldungsdaten aus dem Amazonasgebiet fallenzulassen.“ Brasiliens Regierung wolle ihre Absicht, INPE zu zensieren, gar nicht verbergen. Sie wünsche sich ein Monitoringsystem, das „die fiktive Welt des Bolsonarismus“ bestätige.
Mittlerweile wurde die Regierung wegen Versäumnissen beim Waldschutz mehrfach verklagt. Zu den Klägern gehören Oppositionsparteien, Greenpeace, der Thinktank Instituto Socioambiental sowie eine Organisation von Mitarbeitern des Umweltministeriums. Wie die Deutsche Welle berichtete, werfen sie der Regierung Fehlverhalten wegen unzureichender Kontrollen von Holzexporten und der Kürzung von Klimaschutzgeldern vor.
Unter Wissenschaftlern ist weder umstritten, dass sich das Weltklima ändert, noch dass Wälder in vielen Ländern vernichtet werden. Diese beiden Trends verstärken sich gegenseitig. Sie müssen gestoppt werden, um ständig schlimmer werdende Katastrophen zu verhindern. Wegen ihrer schieren Größe und immensen biologischen Vielfalt sind Brasiliens Wälder vermutlich die wichtigsten weltweit. Besonders bedrückend ist, dass hier die Entwaldung inzwischen an einer Schwelle angekommen zu sein scheint, nach der sich die Natur nicht mehr so wie früher regenerieren kann. Bolsonaro gewann 2018 die Wahlen und übernahm am 1. Januar 2019 die Amtsgeschäfte. Im Wahlkampf hatte er versprochen,
- Umweltverträglichkeitsprüfungen auslaufen zu lassen,
- Schutzgebiete aufzuheben und
- die Grenzbestimmungen für indigenes Land zu lockern.
Logischerweise beschleunigt diese Agenda die Waldvernichtung. Der unabhängige Thinktank Imazon berichtet, in den Monaten Januar bis Mai 2020 seien 1722 Quadratkilometer entwaldet worden – 39 % Prozent mehr als in der Vergleichszeit 2019 unmittelbar nach Bolsonaros Amtsantritt.
Seine Regierung leugnet wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht nur mit Blick auf die Wälder. Ihre Reaktion auf die Covid-19-Pandemie ist ebenso fragwürdig (siehe Gilberto Scofield Jr. im Covid-19-Tagebuch von E+C/D+C e-Paper 2020/06). Die tödliche Krankheit breitet sich in Brasilien schnell aus (siehe Thuany Rodrigues im Covid-19 Tagebuch von E+Z/D+C e-paper 2020/06), aber der Staatschef hat seine Haltung nicht korrigiert. Stattdessen stellte seine Regierung am 7. Juni die öffentliche Berichterstattung über Infektions-und Todeszahlen ein. Laut der Website worldometers.info waren bis zu diesem Zeitpunkt 690 000 Infektionen gemeldet worden – mehr als in jedem anderen Land mit Ausnahme der USA – und 37 000 Brasilianer waren daran gestorben. Viele von ihnen waren Schwarze oder gehörten zu indigen Völkern und waren folglich in rechtspopulistischer Perspektive gar keine richtigen Brasilianer.
Viele hoffen nun angesichts der vielen Lügen, dass Bolsonaro sich bald der Wahrheit stellen muss. Ihm werden Korruption und Justizbehinderung vorgeworfen, und das Oberste Gericht hat entsprechende Ermittlungen gegen ihn zugelassen. Demokratie beruht auf Gewaltenteilung, aber Bolsonaro tut seit Amtsantritt sein Bestes, um diese auszuhebeln. Glücklicherweise hat er nicht alle staatlichen Institutionen unter seine Kontrolle gebracht. Ein Video, das zeigt, wie er und sein Kabinett Richter beschimpfen, ist neulich an die Öffentlichkeit gekommen und hat seine Glaubwürdigkeit weiter beschädigt.
Trotzdem hoffen seine Anhänger weiterhin, er werde seine verlogenen Versprechen irgendwie wahrmachen. Das ist aber unmöglich. Brasilien kann keine homogene Gesellschaft sein, die durch Umweltzerstörung reich wird und zugleich alle ausgrenzt, die irgendwie anders sind. Große Vielfalt zeichnet Brasilien aus – und keine Gesellschaft überlebt, wenn sie die Grundlagen zerstört, von denen sie abhängt.
Jorge Soares ist das Pseudonym eines brasilianischen Journalisten, dem sein Arbeitgeber nach Fertigstellung dieses Beitrags mitteilte, er dürfe in diesen politisch turbulenten Zeiten keine Meinungsbeiträge mehr in anderen Medien veröffentlichen. Die Redaktion ist mit ihm in Kontakt.
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