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BMZ-Beamter äußert sich zu vagen Grundlagen der Entwicklung
Der Titel des Buches „Über Leben in planetarischen Grenzen“ ist auf clevere Weise doppeldeutig, denn es geht wirklich um das Überleben der Menschheit. Wie der Autor konstatiert, verspricht das BMZ, nicht nur nachhaltige Entwicklung, sondern sogar die globale Transformation zur Nachhaltigkeit zu fördern. Das hält er für eine riesige Aufgabe, die ein einzelnes Ministerium überfordere.
Auf nicht einmal 180 Seiten durchkämmt Stierle die BMZ-Rhetorik gründlich. Er beginnt mit einer exzellenten Übersicht der entwicklungspolitikkritischen Literatur der vergangenen 50 Jahre. Von Anfang an lautete das Ziel, Armut zu reduzieren. Dabei sollten nach dem Zweiten Weltkrieg „unterentwickelte“ Länder entwickelt werden, während heute globale Nachhaltigkeit betont wird (siehe Mahwish Gul in E+Z/D+C e-Paper 2020/09, Schwerpunkt). Immer gab es indessen Zweifel an der Wirkung der Entwicklungspolitik. Kritikpunkte waren:
- Sie verstetige die Abhängigkeit ehemaliger Kolonien von den früheren Kolonialmächten,
- sie nähre Korruption und bremse den Modernisierungsehrgeiz von Politikern in Entwicklungsländern, oder
- sie sei im Kontext des kapitalistischen Weltsystems letztlich bedeutungslos.
Manche Kritikpunkte ließen sich leicht widerlegen, aber darum geht es Stierle nicht. Er merkt nur nebenbei an, der Anteil extrem armer Menschen an der Weltbevölkerung sei über Jahrzehnte hinaus gesunken (siehe Sabine Balk in D+C/E+Z e-Paper 2018/09, Schwerpunkt). Ihn interessiert vor allem, was an der Kritik plausibel ist – und fordert dann noch grundsätzlichere Kritik.
Vage und unverbindliche Rechtsgrundsätze
Aus seiner Sicht ist ein Grundproblem des BMZ, dass es sich auf nicht rechtsverbindliche Grundprinzipien beruft. Weder die Universelle Erklärung der Menschenrechte noch die UN-Ziele für Nachhaltigkeit (Sustainable Development Goals – SDGs) noch das Pariser Abkommen zum Klimawandel binden Regierungshandeln. Die internationale Staatengemeinschaft hat sie zwar beschlossen, aber nur in einer Form, die Mitgliedern Nichteinhaltung ermöglicht.
Erschwerend kommt hinzu, so Stierle, dass die unverbindlichen Prinzipien auch nicht so eindeutig sind, wie es auf den ersten Blick erscheint. Deutschland und andere westliche Staaten haben beispielsweise noch nie großes Interesse an den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechten gezeigt. Zudem gibt es auch eine Spannung zwischen den ökonomischen und ökologischen SDGs. Sollte Armut schlicht durch Wachstum beendet werden, könnte die Umwelt nicht gerettet werden. Ungleichheit zu reduzieren ist ein wichtiges SDG-Anliegen, welches das BMZ vorantreiben will. In Deutschland ist die Ungleichheit aber langfristig gewachsen, nicht gesunken.
Stiere merkt obendrein an, der Begriff „Transformation“ sei recht vage. Einerseits sei klar, dass es wegen der globalen Erhitzung nicht so weitergehen könne wie bisher, andererseits stellten sich wohlhabende Nationen gern als Vorbilder dar. Tatsächlich habe aber keine von ihnen eine nachhaltige Lebensweise erreicht.
Multi- wie bilaterale Entwicklungsinstitutionen reagieren seit langem auf Kritik mit Evaluierungen, welche ihre Leistungen objektiv beurteilen sollen. Angestrebt wird dabei, die eigene Effektivität zu beweisen und zugleich die Effizienz zu steigern. Hervorgebracht hat das Evaluierungsgewerbe, wie Stierle ausführt, viele Arbeitsplätze, eine eigene Fachsprache und eine große Zahl von Publikationen. Allerdings habe sie die Öffentlichkeit nicht vom Sinn der Entwicklungspolitik überzeugt. Das liege unter anderem daran, dass unmittelbare Projektergebnisse nicht identisch sind mit Veränderungen im Leben der betroffenen Gemeinschaften – und obendrein sei der nötige soziale Wandel auf der Makroebene noch einmal etwas ganz anderes.
Stierle lässt keinen Zweifel daran, dass die BMZ-Politik auf vagen Grundlagen steht. Zugleich insistiert er, dass die Arbeit weitergehen müsse, weil die Menschheit Armut und ökologischen Wandel beenden müsse. Die SDGs seien zwar nicht rechtsverbindlich, aber sie seien die gültige Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft auf reale Herausforderungen.
Zivilgesellschaftliche Akteure argumentieren seit langem, mangelnde Politikkohärenz sei das zentrale Problem (siehe beispielsweise Bernd Bornhorst in E+Z/D+C e-Paper 2016/04, Debatte). Stierle erkennt das an. Im Kabinett vertrete der Entwicklungsminister globale Interessen, während seine Kollegen deutsche Interessen verfolgten. Deutsche Rüstungsexporte und europäische Agrarsubventionen liefen tendenziell der BMZ-Politik zuwider. Auf ähnliche Weise gebe die Bundesregierung der Autoindustrie häufig Vorrang vor globaler Nachhaltigkeit.
Kompetenter werden
Stierle analysiert diese und andere Dinge erstaunlich präzise. Seine Schlussfolgerung ist, dass das BMZ seine Kompetenzen steigern muss. Konkret spricht er von:
- Ambivalenzkompetenz (weil Entwicklungen in der Regel weder ausschließlich gut noch schlecht seien),
- Modernisierungskompetenz (weil inkrementaler Fortschritt oft in dem Sinne ambivalent sei, dass er positive Ergebnisse zeitige, aber zugleich auch neue Krisen auslöse),
- Transformationskompetenz (weil der Begriff selbst noch zu nebulös sei),
- Legitimitätskompetenz (weil die bisherige Programmatik zu viele Menschen nicht überzeuge) und
- Religions- und Wertekompetenz (weil die Entwicklungspolitik Glaubensfragen seit jeher vernachlässige, obwohl sie im Alltag große Bedeutung hätten – siehe Hans Dembowski in E+Z/D+C 2017/05, Monitor).
Das ist ein gewaltiger Aufgabenkatalog. In gewissem Maß bietet Stierle keine Lösungen an, sondern versucht, die Debatte in eine Richtung zu lenken, die Lösungen wahrscheinlicher macht. Das Ausmaß der Dilemmata mag erschrecken, aber es ermutigt, dass ein BMZ- Beamter sie so akkurat seziert. Ohne die nötigen Fragen zu stellen, lassen sich die richtigen Antworten nicht finden.
Buch
Stierle, W., 2020: Über Leben in planetarischen Grenzen. Plädoyer für eine nachhaltige Entwicklungspolitik. München, oekom verlag.