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Urbanisierung

Neue Visionen

Das aktuelle Buch „Magnet Stadt“ von Einhard Schmidt-Kallert beschäftigt sich mit Urbanisierungsprozessen im globalen Süden. Das, so stellt der emeritierte Professor der TU Dortmund gleich zu Anfang klar, sei ein „waghalsiges Unternehmen“. Denn weder das für die Länder des Nordens typische industriegeleitete Urbanisierungsmuster noch auf den Süden bezogene Konzepte wie „urbanisation under poverty“ könnten für diesen Prozess insgesamt Gültigkeit beanspruchen. Die Frage nach übergreifenden Theorien, Konzepten oder Modellen bildet die inhaltliche Klammer des Buches.
Die größte Stadt Afrikas: Lagos in Nigeria. Lemmens/Lineair Die größte Stadt Afrikas: Lagos in Nigeria.

Nach einer allgemeinen Einführung über weltweite Urbanisierungstrends, Zugänge zur Stadt und Theorien der Stadtentwicklung in den ersten drei Kapiteln beschäftigen sich die Kapitel vier bis elf mit einzelnen Aspekten der Stadtentwicklung im globalen Süden: Aufbruch vom Dorf in die Stadt, Wohnen und Wohnungsstrategien „von unten“, Abriss und Vertreibung, informeller Sektor, Verkehr und andere städtische Infrastruktur, Kinder in der Stadt, Gewalt in der Stadt, Leben zwischen Stadt und Land sowie Stadtplanung. Das letzte Kapitel des kurz vor der UN-Konferenz Habitat III erschienenen Buchs greift nochmals die übergreifende Frage nach „ein, zwei, vielen Wegen zur Welt der Städte“ auf.

Einige Kapitel werden aus der Perspektive eines imaginären Land-Stadt-Migranten erzählt. Er und zum Teil auch noch seine Töchter, Söhne und Enkelkinder erfahren instabile, informelle Wohn- und Arbeitsverhältnisse, die in vielen Ländern und Städten weit über die Hälfte des Wohnraumes und der Arbeitsplätze ausmachen. Da diese sich am Rande oder außerhalb gesetzlicher Vorschriften bewegen, ist die Konfrontation mit der Staatsmacht programmiert. Die Aufwertung und Legalisierung von Squattersiedlungen zum Beispiel kann sich jahrzehntelang hinziehen. Abriss und Zwangsumsiedlung sind mancherorts heute noch Realität.

Die städtische Infrastruktur ist für Land-Stadt-Migranten schwer zugänglich, die individuelle Bewegungsfreiheit ist durch überlasteten Nahverkehr und wachsende Automassen eingeschränkt. Bewohner der armen Stadtgebiete sowie Kinder und Jugendliche sind außerdem besonders von dem Problem der Gewalt betroffen.

Stadtplaner haben sich traditionell nur wenig darum bemüht, die Bedürfnisse, Siedlungstraditionen und Selbsthilfepraktiken der armen Bevölkerung in ihre Konzepte einzubeziehen; Bottom-up-planning bleibt oft eine leere Phrase. Urbanisierung bedeutet daher in vielen Metropolen Afrikas und Asiens ein (Über-)Leben zwischen Stadt und Land. Haushalte kombinieren dabei in der Stadt erworbenes Einkommen mit Einnahmen aus der Landwirtschaft. Man könnte also sagen, die Stadtplanung bleibt unvollendet, zumindest aus einem europäischen Verständnis heraus.

Das Buch ist eingängig geschrieben und stützt sich auf viele Quellen: wissenschaftliche Theorien und empirische Studien, internationale und nationale Statistiken, politische Analysen, literarische Werke und auf Interviews. Nicht zuletzt ergänzt Schmidt-Kallert eine Fülle von Beobachtungen und Eindrücken aus der eigenen Berufs- und Reisetätigkeit.

Im letzten Kapitel kommt der Autor noch einmal auf die Ausgangsfrage nach übergreifenden Urbanisierungsmustern zurück. Am ehesten ließen sich diese für einzelne Regionen oder Länder identifizieren, stellt er nach einer abschließenden „Rundreise“ durch Lateinamerika, Afrika und Asien fest. Auch die großen (urbanen) Herausforderungen unserer Zeit – soziale Ungleichheit, Klimawandel und Gewaltkonflikte – hätten kontextspezifische Ausformungen. Allerdings komme es in den urbanen Räumen des hochverstädterten Südamerikas zu extremer Segregation und Privatisierung, und diese Tendenzen seien zunehmend in allen Groß- und Megastädten der Schwellenländer zu be­obachten.

Der Dystrophie einer fragmentierten Stadt nach nördlicher Prägung setzt Schmidt-Kallert seine persönliche Utopie entgegen: In nicht allzu ferner Zukunft werden Fachleute und Bewohner in den unterschiedlichen Regionen des globalen Südens ihre eigenen „Gegenentwürfe zur jetzigen Form der Verstädterung“ entwickeln – und zwar jenseits der New Urban Agenda, die Habitat III im Oktober in Quito beschloss.

Eva Dick


Buch
Schmidt-Kallert, E., 2016:
Magnet Stadt: Urbanisierung im Globalen Süden. Peter Hammer Verlag.

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