Entwicklung und
Zusammenarbeit

Elasticsearch Mini

Elasticsearch Mini

Unsere Sicht

Empfundene Zusammengehörigkeit

Eine Nation ist nichts Natürliches, sondern eine menschengemachte „imaginäre Gemeinschaft“, wie Benedict Anderson das prominent formulierte. Eine Nation existiert, wenn sich ausreichend viele Menschen mit ihr identifizieren. Sie ist nicht einfach das Ergebnis einer gemeinsamen Sprache, einer bestimmten Gegend, einer verbindenden Religion oder geteilter Traditionen.
Junge Kriegsopfer in Afghanistan. picture-alliance/AP Photo/Altaf Qadri Junge Kriegsopfer in Afghanistan.

Die Schweiz ist dafür ein gutes Beispiel. Ihre Amtssprachen sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Ihre Menschen leben auf verschiedenen Seiten der massivsten natürlichen Grenze, die es in Europa gibt: den Alpen. Die drei Sprachgemeinschaften haben kulturell große Gemeinsamkeiten mit den Nachbarländern, die den Namen ihrer jeweiligen Sprachen tragen. In der Schweiz sind knapp 40 Prozent katholisch, 30 Prozent evangelisch und 20 Prozent konfessionslos. In Europa zeichnet nicht nur besondere Vielfalt  die Schweiz aus, sondern auch besondere Stabilität. Lokale Selbstverwaltung und Unabhängigkeit von Europas Großmächten prägen das nationale Selbstverständnis. Es ist also an die Verfassungsordnung gebunden.

Ein stark ausgeprägtes Zusammengehörigkeitsgefühl schützt vor fragiler Staatlichkeit. Wo Menschen sich der imaginären Schicksalsgemeinschaft einer Nation zugehörig fühlen, sind Gewaltkonflikte weniger wahrscheinlich als da, wo das nicht der Fall ist, sodass Legitimitätskrisen in fürchterliches Blutvergießen ausarten können. Ein abschreckendes Beispiel in Europa war der Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren.

Konzeptionell überschneiden sich die Begriffe „Peacebuilding“, „Statebuilding“ und „Nationbuilding“. Denn die gewaltfreie Lösung von Konflikten ist dort wahrscheinlicher, wo der Staat ein Gewaltmonopol innehat und Menschen weniger geneigt sind, zu den Waffen zu greifen, wenn sie sich mit Nation und Staat identifizieren. Nach traumatischen Katastrophen wie Bürgerkrieg oder Diktatur ist alles drei wichtig: Peacebuilding, Statebuilding und Nationbuilding. Da Wechselwirkungen stark sind, ist die Frage müßig, was zuerst kommen soll. Was eine Komponente stärkt, fördert indirekt auch die beiden anderen. Wirklich wichtig ist es, alle drei möglichst schnell voranzubringen.

Wie wir in Ländern mit hohen Einkommen sehen können, können Nationen zwei Arten von Solidarität fordern – erstens die tendenziell aggressive Solidarität gegen Ausländer und andere Nationen und zweitens die defensive Sozialstaats-Solidarität, die vor Armut und Not schützt. Rechtspopulisten verbinden beides heute auf perfide Weise und behaupten, Migranten und andere Minderheiten nutzten soziale Sicherungssysteme aus, die eigentlich Angehörigen der als homogen verstandenen Nation vorbehalten sein sollten. Das Paradox dieses Narrativs ist, dass es nicht eint, sondern spaltet und zugleich Institutionen schwächt.

Traumatisierte Nationen brauchen Versöhnung, nicht Sündenböcke. Nötig sind die Anerkennung der historischen Wahrheit sowie neues Vertrauen, was Institutionen und Rechtssicherheit angeht. Derlei erfordert, dass Menschen sich sicher fühlen. Dass wirkungsvolle soziale Sicherung die Belohnung für den Erfolg einer Nation sei, ist ein Irrtum, denn soziale Sicherheit ist eben auch eine Voraussetzung für empfundene Zusammengehörigkeit. Beim Engagement in Krisenregionen sollte die internationale Staatengemeinschaft nicht nur militärisch verstandene Sicherheit anstreben. Größere soziale Sicherheit würde nämlich sowohl dem Peace- als auch dem Nationbuilding dienen.