Ernährungssicherheit
Lebensgefährliche Schwankungen
Der WHI erfasst 122 Länder auf einer Zahlenskala und teilt sie in fünf Kategorien von „wenig Hunger“ über „mäßig“, „ernst“ bis hin zu „sehr ernst“ und „gravierend“ ein. Veröffentlicht haben ihn im Oktober das International Food Policy Research Institute (IFPRI), die Welthungerhilfe und die irische Organisation Concern Worldwide.
Einige Trends – vor allem in Lateinamerika und Südostasien – geben Grund zur Hoffnung. So konnten 15 Länder seit 1990 ihre WHI-Werte halbieren, und 19 Länder haben die unteren beiden Kategorien verlassen. In 22 Ländern wird die Lage laut WHI aber immer noch als „sehr ernst“ eingeschätzt. Als „gravierend“ werden die Ernährungsprobleme in den vier afrikanischen Ländern Burundi, Eritrea, Tschad und DR Kongo beurteilt. Am stärksten verschlechterte sich der Wert der DR Kongo – er stieg um 63 Prozent. Die aktuelle Hungerkrise am Horn von Afrika ist wegen fehlender Daten noch nicht erfasst.
Die Autoren nennen stark schwankende Lebensmittelpreise als zentrales internationales Problem. Zum Beispiel hätten sich die Preise für Weizen und Mais von Juni 2010 bis Mai 2011 nahezu verdoppelt. Als wichtigste Ursachen werden aufgeführt:
– die hohe und weiter steigende Nachfrage nach Agrartreibstoffen, die die Politik
mit Beimischquoten zu konventionellen Treibstoffen beschleunigt,
– der Klimawandel, der vor allem in Entwicklungsländern durch lange Dürreperioden oder Überflutungen zu Ernteausfällen führt, und
– die zunehmende Spekulation auf Nahrungsmittel, die Preisschwankungen unabhängig von der tatsächlichen Nachfrage verschärft.
Die Auswirkungen der schwankenden Preise sind in den Industrieländern kaum spürbar, in den Entwicklungsländern jedoch existenzgefährdend. Haushalte in Entwicklungsländern geben bis zu 60 Prozent ihres Geldes für Nahrungsmittel aus, wie der WHI berichtet, in den Industrieländern sind es ungefähr 10 Prozent. Eine Verdopplung des Preises hat laut WHI schwerwiegende Konsequenzen: Arme Menschen essen weniger und kaufen Nahrungsmittel von schlechterer Qualität, was besonders bei Kindern zu Langzeitschäden führe. Außerdem werde an Ausgaben für Bildung oder Gesundheit gespart. Chancen, der Armut zu entkommen, würden damit zunichtegemacht.
Die Autoren fordern unter anderem ein Umdenken bei der Agrartreibstoffpolitik, eine Aufstockung der Nahrungsmittelreserven und Investitionen in eine nachhaltige kleinbäuerliche Landwirtschaft. Um Preisschwankungen durch Spekulation zu verhindern, sollten die Rohstoffmärkte strenger reguliert und aktuelle Datenbanken zur weltweiten Versorgung verfügbar gemacht werden.
Ruf nach Regulierung
Auch die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch setzt sich für eine Regulierung der Lebensmittelspekulation ein. Sie untersucht in einer jüngst veröffentlichten Studie mit dem Titel „Die Hungermacher“ den Zusammenhang zwischen Agrarspekulationen und schwankenden Preisen. Laut den Autoren lassen vor allem Warentermingeschäfte als langfristige Kapitalanlage die Nachfrage und die Lebensmittelpreise ansteigen – auf dem Weltmarkt, aber auch im Einzelhandel. Foodwatch schlägt deshalb vor, den rein spekulativen Handel mit Rohstoffen zu begrenzen.
Aus Sicht von Kanayo F. Nwanze, Präsident des Internationalen Fonds für Landwirtschaftliche Entwicklung, wird das Potenzial der Landwirtschaft in Afrika nicht ausreichend genutzt: Der Kontinent erzeuge bisher nur ein Viertel der Lebensmittel, die Lateinamerika produziert. Der Ackerbau könne die politische Stabilität erhöhen und schaffe Arbeitsplätze, sagt der IFAD-Chef.
Die Hungersnot am Horn von Afrika ist laut Nwanze auch deshalb so dramatisch, weil der Sektor jahrzehntelang vernachlässigt wurde: Die internationale Gemeinschaft und regionale Regierungen hätten sich zu lange auf Industriefragen konzentriert. Sie sollten in Zukunft stärker in die Agrarbranche investieren.
Um die Erträge zu steigern und Agrargeschäfte einträglicher zu machen, müssen Kleinbauern gefördert und das Wissen über Anbaumethoden, Dünger oder Bewässerung vor Ort besser verbreitet werden, empfiehlt der Präsident des IFAD in Zusammenhang mit den WHI-Ergebnissen.
Vera Dicke