Migrantinnen

Höhen und Tiefen eines Einwandererlebens in Deutschland

In Deutschland leben rund 21 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund und mehr als 11 Millionen Menschen mit ausländischem Pass. In manchen Großstädten hat bereits mehr als die Hälfte der Bevölkerung einen nichtdeutschen Hintergrund. E+Z/D+C-Redakteurin Sabine Balk sprach mit drei Einwanderinnen aus Frankfurt über die Beweggründe, warum sie nach Deutschland kamen, ihr Leben und ihre Zufriedenheit im Land. (Teil 1)
Sengül Yalcin-Ioannidis sb Sengül Yalcin-Ioannidis

Ich bin Kurdin und habe meine Heimatstadt Istanbul vor etwa 25 Jahren verlassen. Ich konnte dort nicht mehr bleiben. Ich war seit Jahren in der linken, oppositionellen Szene aktiv und habe als Journalistin gearbeitet. Die Repressalien wurden immer schlimmer, und ich bin zwei, drei Mal festgenommen worden. Ich war insgesamt mehrere Monate in Haft. Ich erzähle das nicht so gerne, weil für Deutsche hört sich Gefängnis gleich nach Kriminalität an. Aber in der Türkei kann das bedeuten, dass du politisch unliebsam bist und willkürlich eingesperrt wirst.

Ich hatte die Hoffnung verloren, dass sich in der Türkei etwas ändert, deshalb wollte ich weg. In Deutschland hatte ich Bekannte, und deshalb bin ich erst einmal nach Nürnberg gegangen. Dort habe ich einige Jahre gebraucht, um mir darüber im Klaren zu werden, wohin ich mit meinem Leben will. Ich habe in Nürnberg ein paar Jahre als Sozialarbeiterin mit türkischen Jugendlichen in einem Drogentherapiezentrum gearbeitet. Dafür brauchte ich kein Deutsch zu sprechen. Das habe ich erst nach fünf Jahren im Land angefangen zu lernen.

Mit Ende 20 habe ich mich dann entschlossen, in Deutschland zu bleiben und hier zu studieren. Da ich in der Türkei Radio-, Kino und Fernsehwissenschaften studiert hatte, durfte ich in Deutschland nur ein ähnliches Fach studieren – auch wenn kein Schein aus der Türkei anerkannt wurde. Also habe ich Theater-, Film- und Medienwissenschaften an der Uni Frankfurt studiert, obwohl ich eigentlich lieber Soziologie oder Sozialarbeit studiert hätte, der Bereich, in dem ich auch heute arbeite. 2005 habe ich meinen Mann, einen griechischstämmigen Deutschen kennengelernt. 2010 und 2016 sind unsere Kinder zur Welt gekommen.

Ich vermisse die Türkei und vor allem Istanbul, die Sonne, das Meer, die Kultur und vor allem meine Eltern, Familie und Freunde. Ich war seit 2015 nicht mehr dort. Das war auch das letzte Mal, dass ich meine Eltern gesehen habe. Seitdem ich mich kritisch gegenüber Präsident Erdogan geäußert habe, traue mich nicht mehr in die Türkei.

Heimat – was bedeutet das für mich? Eine wirkliche Heimat, dort, wo ich akzeptiert werde, wie ich bin, existiert leider nicht. In der Türkei habe ich als Kurdin, Alewitin und Linke nie richtig zur türkischen Gesellschaft gehört, war immer eine Außenseiterin. In Deutschland werde ich immerhin per Gesetz so akzeptiert, wie ich bin. Aber es gibt ungeschriebene Gesetze in der Gesellschaft, und da passe ich auch nicht immer ins Schema. Ich habe auch in Deutschland noch nicht herausgefunden, wie man seine Meinung „richtig“ oder diplomatisch äußert. Deshalb kommt es schon mal zu Missverständnissen und Vorurteilen mir gegenüber. Das passiert in der Arbeit wie im Privaten.

Das Thema Integration sehe ich kritisch – wer soll sich wohin integrieren? Das schafft Hierarchien sowie Täter und Opfer. Jeder bringt seinen eigenen Hintergrund mit, ob Migranten oder Deutsche. Auch Deutsche sind keine homogene Masse. Integration ist auf jeden Fall eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Mit meinen türkischstämmigen Landsleuten in Deutschland kann ich mich nicht identifizieren, da geht es mir ähnlich wie den Deutschen. Viele leben in sehr geschlossenen Gesellschaften, in einer Parallelwelt. Vielleicht ist daran auch die Integrationspolitik Deutschlands schuld. Ich komme nur mit wenigen Deutschtürken klar. Ich fühle mich aber auch den Deutschen nicht zugehörig. Am ehesten fühle ich mich als Europäerin. Ich verteidige die Werte von Europa heutzutage mehr, als Europa es leider selbst es tut – wie zum Beispiel die Flüchtlings- und Migrationspolitik oder Arbeits- und Frauenrechte.


Sengül Yalcin-Ioannidis arbeitet als Bildungsbegleiterin für Geflüchtete und Migranten und als Familienhelferin. Sie plant, einen Verein zu gründen zur ganzheitlichen Bildungs- und beruflichen Begleitung für Migrantinnen, die häuslicher Gewalt entfliehen wollen.
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