Regionale Integration

Was die ECOWAS von der EU lernen kann

Die Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (ECOWAS) steckt in einer Krise. Sie soll die wirtschaftliche Integration ihrer Mitglieder fördern, indem sie Hürden abbaut und regionale Industrialisierung vorantreibt. Der Integrationsprozess der Europäischen Union kann Hinweise darauf geben, wie das gelingen kann.
Gestrandete Lastwagen: Als Reaktion auf den Staatsstreich in Niger schließen die ECOWAS-Mitglieder 2023 die Grenzen zu dem Land. picture-alliance/ASSOCIATED PRESS/Mohammed Babangida Gestrandete Lastwagen: Als Reaktion auf den Staatsstreich in Niger schließen die ECOWAS-Mitglieder 2023 die Grenzen zu dem Land.

Länder treten wirtschaftlichen Blöcken bei oder gründen sie, um den Handel zwischen ihnen zu fördern und den Wohlstand ihrer Bevölkerung zu steigern. 1962 veröffentlichte der ungarische Wirtschaftswissenschaftler Béla Balassa mit „The Theory of Economic Integration“ ein wegweisendes Buch zu diesem Thema. Mehrere internationale Wirtschaftsgemeinschaften folgten einem Integrationspfad, der den von Balassa skizzierten Phasen entspricht. Dazu gehören die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), aus der 1993 die Europäische Union (EU) hervorging, und afrikanische Regionalgruppen wie die ­ECOWAS.

Balassa definiert die Integration als einen fünfstufigen Prozess. Jede Stufe steht für eine tiefere Ebene der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, beginnend mit einer Freihandelszone, in der die Länder die Einfuhrzölle für die Mitglieder der Zone senken, bis hin zur vollständigen wirtschaftlichen Integration, wobei Mitgliedsländer ihre Politik vereinheitlichen und eine supranationale Behörde einrichten.

Der Integrationsprozess Westafrikas

Die ECOWAS wurde am 28. Mai 1975 in Lagos in Nigeria gegründet. Sie ist eine von acht regionalen afrikanischen Wirtschaftsgemeinschaften, die von der Afrikanischen Union (AU) anerkannt sind. Die ECOWAS fördert – teils nach Vorbild der EU – den freien Verkehr von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Personen zwischen ihren Mitgliedsstaaten.

Heute steckt die ECOWAS in einer Krise und steht unter Reformdruck. Im Januar kündigten Burkina Faso, Mali und Niger ihren Austritt an. Sie waren unzufrieden mit der Reaktion der ECOWAS auf die Putsche in ihren Ländern und gründeten ihren eigenen Block, die Allianz der Sahelstaaten. Viele fragen sich seither: Kann die ECOWAS überleben? Ein Blick auf den europäischen Integrationsprozess könnte Aufschluss über ihre Zukunft geben.

Sowohl ECOWAS als auch EU sind bestrebt, die Wirtschafts- und Handelspolitik innerhalb ihrer Regionen zu harmonisieren und so Zusammenarbeit und Stabilität zu verbessern. Beide verfügen über supranationale Strukturen. Dennoch gibt es wesentliche Unterschiede, die auf ihre Ursprünge zurückzuführen sind. Die EWG wurde mit nur sechs Mitgliedern gegründet, bei der ECOWAS waren es 15. Außerdem ging die EWG aus einer regionalen Industrieinitiative, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), hervor.

Die Schuman-Erklärung

Die Idee der EGKS wurde vom damaligen französischen Außenminister Robert Schuman in einer Rede am 9. Mai 1950 vorgestellt. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs zielte die sogenannte Schuman-Erklärung darauf ab, eine wirtschaftliche Interdependenz zwischen den europäischen Ländern zu schaffen, um künftige Konflikte zu verhindern. Indem die Kohle- und Stahlindustrien Frankreichs, Deutschlands, Italiens, der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs unter eine gemeinsame Verwaltung gestellt wurden, konnte keines dieser Länder mehr Waffen für einen Krieg gegen die anderen produzieren. Schumans Plan ging auf: Seit ihrem Beitritt zur EGKS – und später zur EU – hat es keinen einzigen Krieg zwischen den Mitgliedsstaaten gegeben.

Nach dem Inkrafttreten der EGKS im Jahr 1952 wurden auch die von Kohle und Stahl abhängigen Industriezweige wie das verarbeitende Gewerbe und das Baugewerbe stärker miteinander vernetzt. Die europäischen Regierungen und Unternehmen erkannten die Vorteile einer umfassenderen Zusammenarbeit, und die Integration gewann an Dynamik, weil sie den wachsenden wirtschaftlichen Anforderungen entsprach. Schumans Strategie ebnete den Weg für die weitere wirtschaftliche Integration, einschließlich der 1958 ins Leben gerufenen EWG und schließlich der EU im Jahr 1993.

Verglichen mit ECOWAS ist all dies aus mindestens drei Gründen wichtig. Erstens war es mit nur sechs Mitgliedern viel leichter, das Integrationsziel zu erreichen, als die Interessen von 15 Ländern zu harmonisieren. Zweitens wurde die europäische Integration in den 1950er-Jahren durch spezifische, messbare Ziele vorangetrieben. So heißt es in der Präambel des EGKS-Vertrags, dass „Europa nur durch konkrete Leistungen, die zunächst eine tatsächliche Verbundenheit schaffen, (…) aufgebaut werden“ könne.

Drittens verfügten die europäischen Gründungsländer über den Willen und die Mittel, das Projekt zum Laufen zu bringen, indem sie Ressourcen wie Kohle und Stahl beisteuerten. Im Gegensatz dazu beruhte die ECOWAS-Mitgliedschaft auf Geografie, nicht auf Engagement. Die Länder wurden Mitglieder, weil sie in Westafrika lagen. Es gab nie eine mit der EGKS vergleichbare westafrikanische Industrieinitiative.

Wenig Handel innerhalb der ECOWAS

Trotz ihres Reichtums an natürlichen und menschlichen Ressourcen ist es den ECOWAS-Mitgliedsstaaten nicht gelungen, groß angelegte Industrieprojekte zu entwickeln und umzusetzen, um lokale Rohstoffe zu verarbeiten und langlebige Güter zu produzieren. Das Handelsvolumen zwischen den ECOWAS-Ländern ist sehr gering. Auf den Handel innerhalb der Gruppe entfallen gerade einmal 11,5 Prozent der Gesamtexporte des Blocks, verglichen mit 62,6 Prozent in der EU. Die ECOWAS-Vision 2050, eine 2022 eingeführte Strategie, soll eine vollständig integrierte Gemeinschaft schaffen, doch die Region bleibt fragmentiert.

Die vielleicht bemerkenswerteste Errungenschaft der ECOWAS ist bis heute das im Mai 1979 verabschiedete „Protocol relating to the Free Movement of Persons, Residence and Establishment“. Bei der Umsetzung gibt es jedoch noch viele Lücken. Nichttarifäre Hemmnisse wie Zollverfahren, Straßensperren und administrative Hürden behindern weiterhin den freien Handel, und schlechte Infrastruktur schadet Transport und Logistik erheblich. Grenzschließungen zwischen ECOWAS-Ländern unterbrechen den informellen grenzüberschreitenden Handel, der für Millionen Menschen, die zum Beispiel entlang des Korridors Abidjan-Lagos arbeiten, lebenswichtig ist.

Der EU-Integrationsprozess zeigt, dass Länder regionalen Blöcken beitreten und sich weiter integrieren, weil die Vorteile die Kosten überwiegen. Dazu gehören Größenvorteile, geringere Handelsschranken und größere politische Stabilität. Die ECOWAS sollte sich diese Aspekte zu eigen machen, um gestärkt aus ihrer Krise hervorzugehen. Wie die EGKS sollte sie sich auf spezifische Ziele einigen, um die regionale Industrialisierung voranzutreiben. Dies würde die wirtschaftliche und politische Integration fördern. Die Automobilindustrie ist ein besonders vielversprechender Sektor für eine solche Zusammenarbeit.

Link
ECOWAS Vision 2050:
https://www.informea.org/en/content/legislation/ecowas-vision-2050-ecowas-peoples-peace-and-prosperity-all 

Eric Tevoedjre ist ein Politikwissenschaftler aus Benin. Er forscht zu regionaler Integration in Afrika, speziell der ECOWAS-Region.
erictev@gmail.com 

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