Indigene Medizin
Warum Indigenes medizinisches Wissen bewahrt werden muss

Traditionelle Medizin wird von Indigenen Gemeinschaften in Afrika seit Anbeginn der Menschheit praktiziert. Lange vor dem Aufkommen der modernen Medizin linderten sie Schmerzen und Krankheiten mit Pflanzen, Kräutern, Tierorganen, Wurzeln, Blättern und Erde.
Die ethnobotanische Forschung in Tansania und Kenia zeigt, dass die Massai – die in beiden Ländern beheimatet sind – und viele andere Indigene Gemeinschaften über fundiertes Wissen zu den die Heilpflanzen in ihrer Umgebung verfügen. Als Viehhirt*innen mit umfassender Kenntnis ihrer Umwelt verwenden die Massai eine Vielzahl von Pflanzen und Kräutern, um ihre eigenen Krankheiten und die ihres Viehs zu behandeln. Dazu gehören unter anderem:
- Grünherzbaum (Warburgia ugandensis): Ein Sud aus der Rinde wird zur Behandlung fieberhafter Erkrankungen, insbesondere Malaria, und als allgemeines antimikrobielles Mittel verwendet.
- Wurmrindenbaum (Albizia anthelmintica): Traditionell zur Entfernung von Darmparasiten verwendet. Die Wurzeln werden gekocht und gegessen. Manchmal wird die Rinde bei Malaria-Symptomen oder als Salzersatz verwendet.
- Mantelpflaume (Pappea capensis): Massai-Krieger verwendeten traditionell einen Aufguss aus der Rinde als reinigendes Tonikum für das Blut und zur Unterstützung der Genesung nach Blutverlust.
Weitere beliebte Heilpflanzen der Indigenen Bevölkerung Tansanias sind der Tamarindenbaum (Tamarindus indica) und der Affenbrotbaum, auch Baobab genannt (Adansonia digitata). Tamarinde wird zur Behandlung einer Vielzahl von Krankheiten eingesetzt, darunter Magen-Darm-Beschwerden, Halsschmerzen, Verstopfung, allergische Dermatitis und Cholera. Das getrocknete Fruchtfleisch der Baobab-Frucht ist reich an Ascorbinsäure, während die Blätter Vitamin C, Zucker, Kalium, Weinsäure und Kalzium enthalten. Das Fruchtfleisch wird gegessen, für erfrischende Getränke eingeweicht und als Konfitüre konserviert, während die Rinde zu Seilen, Matten und Körben verarbeitet wird.
Ganzheitliche Heilung
Das medizinische Wissen der Massai ist Teil ihrer ganzheitlichen, spirituell geprägten Weltanschauung, in der die Erde die ultimative Quelle des Lebens ist. Sie versorgt sie nicht nur mit Nahrung, Wasser und Heilpflanzen für sich selbst und ihr Vieh, sondern auch mit heiligen Pflanzen für Rituale sowie mit Begräbnisstätten und Orten, an denen die Geister ihrer Vorfahren wohnen. Regen und natürliche Zyklen sind integraler Bestandteil dieser Weltanschauung.
Diese Beziehung ist nicht nur bei den Massai zu finden. Fast alle der rund 120 Indigenen Gemeinschaften Tansanias nutzen Wälder für medizinische Zwecke und schützen sie aktiv. Wissenschaftler*innen weisen darauf hin, dass die traditionelle Medizin in afrikanischen Indigenen Gemeinschaften im Gegensatz zur modernen Medizin den Menschen als Ganzes behandelt und physische, kulturelle, psychologische und andere Aspekte des menschlichen Wohlbefindens berücksichtigt.
Für die Massai sind Leben, Gesundheit, Krankheit und Heilung somit untrennbar mit ihrer Umwelt verflochten. „Medikamente zum Schutz wirken innerhalb ihres Lebensumfelds“, schreibt Aidan Msafiri vom Kilimanjaro Consortium for Development and Environment Ecoplus (KCDE).
Bedrohte Lebensweise
Die traditionelle Lebensweise der Massai, einschließlich ihrer naturheilkundlichen Medizin, ist jedoch gefährdet. Die tansanische Regierung hat unter dem Vorwand des Naturschutzes einen Plan ausgearbeitet, bis 2027 zehntausende Massai aus ihrem angestammten Land im Ngorongoro-Schutzgebiet im Norden Tansanias umzusiedeln. Viele sehen darin einen Versuch, den Tourismus anzukurbeln. Die Region ist für ihre atemberaubende Landschaft und Tierwelt bekannt.
Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat die Regierung bereits Tausende Massai in ein etwa 600 Kilometer entferntes Dorf umgesiedelt, wo sie Häuser, Ackerland und moderne Infrastruktur erhalten. HRW kritisiert, dass die betroffenen Massai-Gemeinschaften weder in die Planung einbezogen waren noch eine freie, informierte und vorab eingeholte Zustimmung hätten geben können.
Christopher Ole Sendeka ist ein erfahrener Massai-Parlamentarier. Seiner Meinung nach verletzen diese Maßnahmen die Lebensweise der Gemeinschaft, die so eng mit der Wildnis verflochten ist, dass beide nicht voneinander getrennt werden können.
Soksi Ole Ngitika ist ein Dorfältester aus dem kleinen Ort Kayapus in Oldugai, Ngorongoro. Er behauptet, dass die Massai die höchste Lebenserwartung in Afrika hätten. Seiner Ansicht nach hätte die Regierung eher versuchen sollen, vom Sozialgefüge der Massai zu lernen, um dem gesamten Land in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht zu nutzen, anstatt sie zu entwurzeln. „Wir haben in unserem natürlichen Lebensraum immer unter wilden Tieren gelebt, wir leben immer noch dort und wir wollen dort weiterhin leben.“ Ngitika zufolge sind für Entwicklung auch solide kulturelle Grundlagen nötig. Er hält es für falsch, Indigenen Gruppen abzusprechen, ihren Beitrag dazu leisten zu können.
Die Vertreibung der Massai droht, jahrhundertelang gewachsene traditionelle Heilpraktiken auszulöschen, die eng mit ihrer einzigartigen Umwelt verbunden sind. Auch wenn die Rückkehr zu traditioneller Ernährung und Medizin in einigen Teilen der Welt zu einem Trend geworden ist – Google Arts & Culture hat eine ganze Ausstellung mit dem Titel „Healing the Maasai Way“ –, findet die traditionelle Medizin nicht genügend Beachtung, insbesondere in den Heimatländern Indigener Gemeinschaften. Einrichtungen, die sie fördern, betreiben oft nicht nachhaltige Erntepraktiken. Darüber hinaus gibt es beispielsweise in Tansania keine wirksamen rechtlichen Rahmenbedingungen oder Strategien zum Schutz der traditionellen Medizin.
Mit der Vertreibung der Massai aus ihren angestammten Gebieten sieht die Zukunft dieses Wissens um Heilpflanzen und -praktiken düster aus. Die Vertreibung trennt diese Gemeinschaften nicht nur von ihren Vorfahren, sondern wird von vielen als das Ende ihrer Welt empfunden.
Lawrence Kilimwiko ist Journalist, Autor und Kommunikationsberater. Er lebt in Dar es Salaam, Tansania.
lkilimwiko@yahoo.com