Marginalisierung
Wie Banden mexikanische Mülldeponien kontrollieren
Durch Massenkonsum, Urbanisierung und einen schnelllebigen Lebensstil gibt es immer mehr Einwegprodukte, die sofort weggeworfen werden. Käufer*innen denken in der Regel nicht an die sozialen und ökologischen Folgen. Dieser Trend ist in Mexiko deutlich sichtbar. Das Land erzeugt täglich etwa 120 000 Tonnen Abfall, das sind durchschnittlich 0,95 Kilogramm pro Person. Nach Angaben des Ministeriums für Umwelt und natürliche Ressourcen (SEMARNAT – Secretaría de Medio Ambiente y Recursos Naturales) können nur knapp 31 Prozent davon potenziell recycelt oder wiederverwendet werden.
Die formale Infrastruktur Mexikos ist mit dem Müll überfordert. Das Land hat 47 Abfallbehandlungsanlagen, die sich in 43 Gemeinden in 15 Bundesstaaten befinden. Die Mitarbeiter*innen dieser Anlagen sollen die Abfälle trennen und sortieren. Doch selbst in diesen Anlagen werden nur rund sieben Prozent des so behandelten Mülls als verwertbar eingestuft. Das stellten SEMARNAT und das Nationale Institut für Ökologie und Klimawandel (INECC – Instituto Nacional de Ecología y Cambio Climático) 2020 in einer gemeinsamen Studie fest. Sie bewerteten darin den Stand der integrierten Abfallwirtschaft.
Kunststoffe verdienen besondere Beachtung. SEMARNAT geht davon aus, dass pro Person etwa 50 Kilogramm Plastik pro Jahr weggeworfen werden und das Land etwa 6000 Tonnen Einwegplastik verbraucht.
Unzureichende Infrastruktur
Wie belastbar die offiziellen Zahlen sind, ist schwer zu sagen. Mexiko hat zwar einen Rechtsrahmen und politische Instrumente für die integrierte Abfallwirtschaft, aber die reichen laut den Behörden nicht aus. Das Nationale Programm für Abfallvermeidung und -management hat eingeräumt, dass es weder über eine angemessene Infrastruktur noch wirksame Überwachungsmechanismen verfügt. Erschwerend kommt hinzu, dass das formale Abfallwirtschaftssystem entlang der Landes- und Gemeindegrenzen gespalten ist. Ländliche Gebiete und Kleinstädte sind tendenziell im Nachteil, auch weil ihnen das Geld für große Investitionen und eine gut organisierte kommunale Betriebsstruktur fehlt.
Hier übernimmt der informelle Sektor eine entscheidende Funktion – allerdings ohne, dass darüber Buch geführt würde. Informelle Unternehmen arbeiten per Definition ohne große Regulierung und staatliche Aufsicht. Entsprechend gibt es keine systematische Erhebung, wie viel Abfall tatsächlich recycelt wird.
Nicht nur, wie viel Abfall tatsächlich recycelt wird, ist unklar, sondern auch, wie viele Personen in der informellen Abfallwirtschaft arbeiten. Laut der Studie von SEMARNAT und INECC sind es zwischen 500 000 und 2 Millionen. Am unteren Ende der Pyramide hängen ganze Familien von der gefährlichen Arbeit ab. Viele der Müllsammler*innen bleiben bitterarm.
Die informelle Abfallwirtschaft ist ein komplexes System, zu dem Abfallsammlerinnen genauso gehören wie ehrenamtliche Helfer und Schrotthändler. Sie recyceln Rohstoffe und verkaufen sie an Unternehmen. Einzelpersonen und Gruppen gewinnen Papier, Pappe, Kunststoffe und Metalle aus den kommunalen Abfällen.
Gesundheitsgefahren
Eher ein marginales Problem, aber trotzdem ärgerlich: Manche Menschen öffnen auf der Suche nach Wertgegenständen Müllsäcke und verstreuen den Inhalt auf der Straße. Das kann die Gesundheit der Anwohner*innen gefährden. Andere Probleme sind in dieser Hinsicht freilich gravierender. So führt beispielsweise die informelle Rückgewinnung von Metallen aus Elektrogeräten zu gefährlicher Umweltverschmutzung. Die Menschen verbrennen Teile dieser Geräte, ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein, wie das Nationale Programm für Vermeidung und Management von Sondermüll 2022–2024 feststellt. Dies gefährdet die menschliche Gesundheit und schädigt die Ökosysteme. Gerade die armen Menschen, die diese Arbeit machen, sind selbst besonders gefährdet.
Organisiertes Verbrechen
Der Recyclingmarkt und seine Wertschöpfungsketten sind riesig, sodass im informellen Sektor viel Geld steckt. Kriminelle Banden haben die Kontrolle, und es gibt viel Korruption – ein häufiges Phänomen, wenn sich die Geschäftstätigkeit auf schwarzen und grauen Märkten abspielt. Wo die Rechtsstaatlichkeit kaum greift, haben andere Kräfte das Sagen.
Kartelle entscheiden, wer Arbeit in der informellen Abfallwirtschaft bekommt. Sie kontrollieren zum Beispiel, wer Zugang zu Mülldeponien hat. In der Folge sind die Menschen, die auf das Sortieren und Sammeln von Gegenständen auf den Deponien angewiesen sind, ihnen völlig ausgeliefert. Zudem sind die Möglichkeiten zur Überwachung der Mülldeponien begrenzt.
Ein solches Monitoring könnte aber dabei helfen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Tausende von Familien schuften unter gefährlichen und illegalen Bedingungen auf mexikanischen Mülldeponien. Auch Kinderarbeit ist eine gängige Praxis: Die Kinder begleiten ihre Mütter auf den Deponien und tragen so zum Familieneinkommen bei.
Mexiko hat die Menschen auf den untersten Stufen der Abfallwertschöpfungsketten seit jeher im Stich gelassen. Sie sind benachteiligt, schutzbedürftig und leben in prekären Verhältnissen. Oft konnten sie seit Generationen im formellen Sektor nicht richtig Fuß fassen. Viele sind aus armen ländlichen Gebieten migriert, andere wurden auf der Müllkippe geboren.
Es gibt durchaus staatliche und zivilgesellschaftliche Initiativen, um die Situation zu verbessern (siehe Kasten). Trotz gewisser Fortschritte geht es aber zu langsam voran. Eigeninteressen, die sich einer Veränderung der Situation widersetzen, sind nur ein Teil des Problems. Die große Herausforderung ist, dass die Veränderung nicht nur die Praktiken der Abfallwirtschaft betrifft. Vielmehr muss auch weniger Abfall erzeugt werden – und der verbleibende Müll muss besser wiederverwendbar sein.
Wenn der Wandel nachhaltig sein soll, braucht es eine breite Beteiligung. Die gesamte Gesellschaft muss einbezogen und mitgenommen werden. Mexiko braucht ein umfassendes Konzept, das darauf abzielt, die Verantwortung zwischen kommunalen Behörden, staatlichen Stellen, privaten Unternehmen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Verbraucher*innen wirkungsvoll aufzuteilen.
Pamela Cruz arbeitet für Comunalia, einem Netzwerk von Bürgerstiftungen in Mexiko, und MY World Mexico, ein Sozialunternehmen für nachhaltige Entwicklung und Zusammenarbeit.
pamela.cruzm@gmail.com