Textilindustrie in Äthiopien
Beschäftigte bewerten Äthiopiens Textilindustrie gemischt
Bisher lockten niedrige Löhne, billige Elektrizität und eine vorhandene Infrastruktur Investoren aus vielen Ländern an. Doch nun haben die Pandemie und der Bürgerkrieg die Textilindustrie in Äthiopien schwer gebeutelt. Abnehmer stornierten Aufträge, Fabriken mussten ihr Personal reduzieren und ein Teil der Beschäftigten kam aus Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus nicht zur Arbeit. Infolgedessen wurde viel weniger produziert. Der Wert der Exporte aus öffentlichen und privaten Industrieparks in den ersten neun Monaten des äthiopischen Steuerjahres 2020 ging um 45 Prozent zurück, wie die äthiopische Investitionskommission (Ethiopian Investment Commission – EIC) mitteilte.
Der Bürgerkrieg könnte noch schlimmere Folgen für die Textilindustrie haben und sogar zum Zerfall des Staates führen, meinen Beobachter. Die Zentralregierung hat nun wieder an Boden gewonnen, und Anfang April waren Kamphandlungen auf Tigray begrenzt. Die Folgen für das ganze Horn von Afrika bleiben aber unabsehbar. Viele Textilparks fürchten angesichts der angespannten Lage einen Rückzug der ausländischen Investoren und einige davon (vor allem aus Asien) haben sich bereits zurückgezogen oder dies angekündigt.
Viele Probleme
Der Industriepark in Hawassa ist ein Beispiel. Er liegt zwar nicht im umkämpften Gebiet, sondern im Süden Äthiopiens, aber auch hier fürchtet man die Folgen der Destabilisierung des Landes durch den Tigray-Konflikt (siehe Markus Rudolf auf www.dandc.eu). Zudem schwebt über allem ein anderes Problem: Die extrem hohe Fluktuation und das häufige Fernbleiben der Arbeiterinnen. Mit den Gründen dafür beschäftigt sich ein dreijähriges Forschungsprojekt (2020–22), das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) gefördert wird. Dafür wurden Interviews mit Textilarbeiterinnen und -arbeitern zu ihrer Situation durchgeführt.
Fünf Frauen und vier Männer wurden in Tula, einem kleinen Dorf, 20 Kilometer entfernt von Hawassa befragt. In der Gruppe bildet sich die religiöse Vielfalt des Landes ab: Es sind Protestanten, Orthodoxe und ein Muslim darunter. Die Runde von Textilarbeiterinnen, Ex-Arbeiterinnen und dörflichen Beobachtern der Textilindustrie sieht Vor- und Nachteile der Arbeit im Industriepark. „Es ist gut, Arbeit zu haben und ein besseres Leben. Es ist besser, unabhängig zu sein, statt zu Hause zu sitzen und nichts zu tun“, sagte eine der Frauen.
Das Problem ist aber die sehr geringe Bezahlung, sind sich alle einig. Das Gute sei, dass jeder, der will, dort arbeiten kann, sagt einer der Befragten. Aber die Bezahlung müsse so sein, dass die täglichen Ausgaben gedeckt werden können. Dass dies vielfach nicht so ist, ist wohl einer der Hauptgründe für die hohe Fluktuation in der Branche. Hinzu kommen schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen für der Beschäftigten. Die Arbeiterinnen müssen Nachtschichten leisten und sich als Unterkunft häufig zu viert oder mehr einen Raum teilen.
Der Krieg verschärft die finanzielle Notlage der Textilarbeiterinnen, weil die Inflation stetig steigt. Nach Angaben der nationalen Statistikbehörde lag die Inflationsrate im September 2021 in Addis Abeba bei rund 35 Prozent, bei Lebensmitteln sogar bei 42 Prozent. So wird das Überleben in der Stadt immer schwieriger.
Überleben im Slum
Dies können die Befragten in Tafo, einem Slum am Rande der Millionenstadt Addis Abeba bestätigen. Ein Mann, dessen Frau in der Textilindustrie arbeitet, meint, dass der Lohn viel zu niedrig sei und die Frauen viel zu leiden hätten. Ihre Rechte würden nicht respektiert und wenn Frauen sich zum Beispiel gegen eine Anordnung zur Wehr setzen, würden sie sofort entlassen. Wenn Frauen kündigten, würde ihnen oft das Zeugnis über ihre Tätigkeit und ihre Kenntnisse in der Textilindustrie verweigert. So könne der Arbeitgeber sie zwingen, nach der Kündigung noch zwei oder drei Monate zu bleiben, bis Ersatz gefunden wird. „Wenn man sich den Job ansieht, dann hat er Züge von Sklaverei“, resümiert der Mann. Eine Textilarbeiterin aus Tafo fügt hinzu: Wenn jemand am Arbeitsplatz krank wird, lassen sie diejenige nicht nach Hause gehen, sondern „sie warten, bis eine Arbeiterin in Ohnmacht fällt“.
Aus diesen Aussagen werden die Konfliktlinien zwischen Investoren und den Beschäftigten in der äthiopischen Textilindustrie sichtbar: Aus der Perspektive der ausländischen Firmen sind die Löhne so niedrig, dass es sich für sie sogar lohnt, aus dem Billiglohnland Bangladesch aufzubrechen. Die Textilproduktion in Äthiopien ist noch günstiger. Allerdings beklagen die Manager die hohe Fluktuation sowie eine fehlende Arbeitsmoral der Arbeiterinnen. Ein ausländischer Manager konstatierte, dass die Produktivität so niedrig sei, dass er die Zukunft der äthiopischen Textilindustrie als gefährdet betrachte.
Für die Arbeiterinnen stellt sich die Situation aber ganz anders dar: Sie müssen für einen Hungerlohn sechs Tage in der Woche in der Halle stehen oder sitzen. Für viele kommt eine längere Anfahrt mit dem Bus dazu. Wer in der Nähe des Arbeitsplatzes wohnt und nicht mit dem Bus fährt, drängt sich mit anderen Frauen in einen kleinen gemieteten Raum, der zudem noch einen beträchtlichen Teil des kargen Verdienstes auffrisst. So suchen sich diejenigen, die können, schnellstmöglich eine andere Arbeit.
In der deutschen Debatte wird kontrovers über die Textilindustrie in Äthiopien diskutiert. Die einen sehen darin einen wichtigen Schritt für Äthiopiens Entwicklung: Sie schafft Arbeitsplätze, fördert die Industrialisierung und verringert extreme Armut. Die anderen sehen Löhne unterhalb des Existenzminimums, unzumutbare Arbeitsbedingungen, kurz Ausbeutung. Zugespitzt sagen die einen: Das ist Fortschritt. Die anderen: Das ist moderne Sklaverei. Die Meinung der befragten Äthiopiern weist Parallelen zur deutschen Debatte auf: Die Befürworter argumentieren mit dem Gewinn von Arbeitsplätzen, mit der finanziellen Unabhängigkeit der Frauen; die Skeptiker beklagen die schlechten Löhne und die schwierigen Arbeitsbedingungen für die Frauen.
Michaela Fink ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des vorgestellten Projekts des BMZ, das an der Justus-Liebig-Universität Gießen durchgeführt wird.
michaela.fink@sowi.uni-giessen.de
Reimer Gronemeyer ist Professor Emeritus am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen und Leiter des vorgestellten Äthiopienprojektes.
reimer.gronemeyer@sowi.uni-giessen.de