Leserbrief

Landwirtschaftliche Traditionen werden ausgebeutet

Ein deutscher Leser hat vor kurzem auf einen Beitrag über Hunger, Armut und ländliche Erwerbsmöglichkeiten reagiert. Sein Brief betont die Armut der Dorfgemeinschaften, die traditionelle, aber für die ganze Menschheit genetisch wichtige Nutzpflanzen züchten.
D+C/E+Z

Das Editorial hatte Hans Dembowski für unsere Digitale Monatsausgabe E+Z/D+C 2022/11 geschrieben. Es ist auch auf der Website erschienen. Der Leserbrief von Dr. Artur Behr aus Hermannsburg lautet so:

Die agrarischen Gemeinschaften, die Sie erwähnen, „hüten“ die „unverzichtbaren Ressourcen“ nicht trotz, sondern wegen ihrer Armut, also aus Mangel an Alternativen. Ihre Praktiken werden als unverzichtbar wahrgenommen und deshalb traditionell vererbt. Von Menschen geschaffene Agrarlandschaften zeichnen sich durch besondere Ökosysteme aus, die aber keineswegs stabil sind, ganz im Gegenteil sind sie sehr labil! Sobald sie nicht mehr gepflegt werden, setzt wieder eine natürliche Dynamik ein, die schließlich zur Zerstörung der Agrarlandschaft führt.

Der Zerfall einer Agrar- beziehungsweise Kulturlandschaft ist ein Kulturschaden, also eigentlich kein Umweltschaden. Naturlandschaften unterliegen der grundsätz­lichen natürlichen Dynamik, Kulturlandschaften werden möglichst durch das Nutzungssystem stabilisiert. Agrarlandschaften sind daher nur scheinbar bei kurzzeitiger Betrachtung stabil. Ihre im Grunde sehr labile Stabilität verdanken sie dauernder Arbeit zur Erhaltung. Bei Agrarlandschaften muss man zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit unterscheiden. Erstere dient der Produktion von Nahrungsmitteln beziehungsweise Rohstoffen, die reproduktive Arbeit dagegen allein dem Erhalt des Systems.

Sobald die reproduktive Arbeit im Vergleich zur produktiven Arbeit und deren Ergebnissen als zu hoch empfunden wird, wird die Pflege der Agrarlandschaft aufgegeben und dem Verfall preisgegeben. Dieser Prozess ist für die Almwirtschaft in den Alpen eindeutig belegt und lässt sich insbesondere an zahlreichen Bewässerungs- und Terrassenlandschaften nachweisen.

Natürliche Ökosysteme sind wie die Natur insgesamt grundsätzlich dynamisch. Der auf sichere Erträge angewiesene Bauer setzt alles daran, aus einer dynamischen Naturlandschaft eine stabile Agrarlandschaft zu schaffen. Das gelingt aber nur um den Preis von dauernder Arbeit.

Wenn das Erbe aus traditioneller Züchtung nur bewahrt werden muss, damit es als Grundlage moderner Züchtung durch Agrarkonzerne genutzt werden kann, dann stellt das eine moderne Form der Ausbeutung dar. Wo bleibt da der Hinweis, dass dieses Erbe nicht kostenlos verwertet werden darf? Dieses Erbe kann nur dauerhaft bestehen, wenn die Gesellschaften, die für Züchtung und Bewahrung zuständig sind, in ihrer überlieferten Wirtschafts- und Lebensweise unverändert bestehen bleiben, also in Armut verharren müssen.

 

Anmerkung der Redaktion: In derselben Digitalen Monatsausgabe erschien ein Aufsatz von Parviz Koohafkan über weltweit wichtige Agrarerbe-Systeme, in dem er auch auf die inakzeptable Armut der betroffenen ländlichen Gemeinschaften einging.

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