Sport
„Behindertensport ist unverzichtbar“
Auf der ganzen Welt bringt der Sport Menschen zusammen und hält sie fit. Welche Bedeutung hat er für Menschen mit Behinderung?
Der Behindertensport ist unverzichtbar. Noch stärker als der Sport von Menschen ohne Behinderung sorgt er für die individuelle Gesundheit. Menschen mit Behinderung, die Sport treiben, fühlen sich nicht nur selbst besser und sind mobiler, sondern bleiben auch länger fit. Laut dem aktuellen Teilhabebericht der Bundesregierung treiben allerdings 55 Prozent der Menschen mit Behinderungen in Deutschland keinen Sport. Das ist eine alarmierende Zahl und eine große Herausforderung für die gesamte Gesellschaft – auch für die Krankenversicherungen. Wir müssen deshalb die Angebote verstärken. Das Problem ist, dass mehr als 90 Prozent der Sportplätze und Sporthallen in Deutschland nicht barrierefrei sind. Oft verhindern zum Beispiel Treppen den Zugang für Rollstuhlfahrer. Wenn sie es bis in die Halle schaffen, können sie häufig die Toiletten nicht benutzen. Wer blind oder sehbehindert ist, hat oft gar keine Möglichkeit, sich zurechtzufinden.
Wie ließe sich das verbessern?
Indem bauliche Maßnahmen nicht nur verkündet, sondern auch wirklich vorgenommen werden. Erfreulich ist, dass Neubauten inzwischen behindertengerecht sind. Die meisten Sporthallen sind aber in kommunaler Hand, und dort fehlt Geld. In Deutschland ist das Bewusstsein für die Belange von Menschen mit Behinderung zwar da, aber die Umsetzung bleibt zu zaghaft. Wir sprechen hier schließlich über Menschenrechte: Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf Teilhabe.
Wie ist der Behindertensport in Deutschland organisiert?
Die Basis sind mehr als 6400 Behindertensportvereine – und tausende Vereine, die zusätzlich zum Regelsport auch Behindertensport anbieten, allerdings sind das noch zu wenige. Viele Sportarten können von Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam ausgeübt werden, zum Beispiel Rollstuhlbasketball. Wir streben danach, weniger Behindertensportvereine zu gründen und stattdessen den Menschen die Teilhabe in den Regelsportvereinen zu ermöglichen. Die Behindertensportvereine sind wiederum in 17 Landesverbänden organisiert, es gibt auch zwei Fachverbände, für Rollstuhlsportler und Schwerhörige. Wir als Deutscher Behindertensportverband (DBS) sind der nationale Dachverband und insbesondere für den Spitzensport zuständig.
Ihr Verband hat gut 500 000 Mitglieder. Woher kommt diese Popularität?
Als ich 2009 das Präsidentenamt übernommen habe, hatten wir etwa 240 000 Mitglieder. Seither haben wir unseren Bekanntheitsgrad und unsere Angebote verbessert. Das ist das Ergebnis des großen Engagements vieler und der erfolgreichen Arbeit in tausenden Vereinen vor Ort. Wir hatten sogar noch mehr Mitglieder, aber mehr als 100 000 haben seit der Covid-19-Pandemie die Vereine verlassen, weil es zeitweise coronabedingt kaum noch Sportangebote gab. Viele Sportlerinnen und Sportler mit Behinderung sind außerdem besonders vorsichtig, weil sie zu Corona-Risikogruppen gehören, etwa aufgrund von Atembeschwerden.
Wie finanziert sich der Behindertensport in Deutschland?
Der Breitensport lebt von den Mitgliedsbeiträgen der Vereine, von Sponsoren aus der Wirtschaft und von Spenden. Finanzielle Unterstützung kommt auch von den Bundesländern, sie sind für den Breitensport zuständig. Der professionelle Sport, das Team Deutschland Paralympics, wird über eine Agentur vermarktet, die Sponsorengelder in beachtlicher Höhe einwirbt. Aber der größte Teil des Leistungssports wird aus Steuergeldern des Bundes finanziert.
Welche Sportarten sind am populärsten?
Para-Leichtathletik und Rollstuhlbasketball sind Klassiker im Breiten- wie im Leistungssport. Immer größerer Beliebtheit erfreut sich Para-Radsport. Dort gibt es verschiedene Variationen, teils wird das Fahrrad im Liegen mit einer Handkurbel angetrieben.
Inwiefern wird Behindertensport im Ausland von Deutschland aus gefördert?
Es gibt beim Auswärtigen Amt bereits seit mehr als 50 Jahren eine internationale Sportförderung. Da geht es um vielfältige Projekte für den Aufbau und Ausbau von Breitensportstrukturen in vielen Ländern. Das ist ein wichtiger Baustein der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik.
Haben Sie konkrete Beispiele?
In Vorbereitung auf die Paralympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro 2016 gab es einen engen Austausch mit Brasilien. Unser Nationalteam im Goalball, einem Ballspiel für Menschen mit Sehbehinderung, besuchte beispielsweise im Rahmen eines Bildungsprojekts Kindertagesstätten in den Favelas, den Armenvierteln Rios. Wir haben auch bereits Menschen mit Behinderung aus Nordkorea, Argentinien und Chile nach Deutschland eingeladen, um ihnen im Schwarzwald den Behindertensport im Schnee näherzubringen. Deutsche Trainerinnen und Trainer werden auch nach Afrika und Asien entsandt, um dort Fortbildungen zu geben.
Wie kommen solche Kooperationen zustande?
Wir stehen im regelmäßigen Austausch mit dem Auswärtigen Amt und mit der GIZ. Außerdem fragen uns immer wieder Verbände aus anderen Ländern an. Häufig wünschen sie finanzielle Unterstützung – die können wir allerdings nicht leisten, das würde unseren Statuten widersprechen. Teils fragen sie auch Hilfsmittel an, etwa Sportrollstühle oder Prothesen. Das leiten wir weiter an andere Einrichtungen und Hilfsorganisationen. Manche Anfragen kommen auch über das Internationale Paralympische Komitee (IPC – International Paralympic Committee), die Dachorganisation der nationalen Komitees. Das IPC sitzt in Bonn, und wir arbeiten eng mit ihm zusammen, etwa für die Kampagne WeThe15.
Könnten Sie das bitte erklären?
WeThe15 weist darauf hin, dass 15 Prozent der Weltbevölkerung mit Behinderungen leben. Es ist eine globale Bewegung mit dem Ziel, Menschen mit Behinderung sichtbarer zu machen, Diskriminierung zu beenden sowie für Inklusion und Barrierefreiheit einzutreten. Am 19. August 2021 leuchteten zu diesem Zweck mehr als 100 Sehenswürdigkeiten in mehreren Ländern und Zeitzonen in Lila, der internationalen Farbe für Menschen mit Behinderung. Wir sorgten dafür, dass auch das Olympiastadion in Berlin leuchtete. Diese Bewegung wird weltweit fortgeführt und trägt auch zu Kooperationen zwischen verschiedenen Ländern bei.
Die internationalen Höhepunkte des Behindertensports sind die Paralympischen Spiele, die jeweils im Anschluss an die Olympischen Spiele an demselben Ort stattfinden.
Das sind die absoluten Highlights, ja. Die Entscheidung, dass Olympische Spiele nur noch mit Paralympischen Spielen stattfinden dürfen, war ein Quantensprung für den Behindertensport. Diese Vereinbarung gilt derzeit bis 2032. Ich gehe aber davon aus, dass sie verlängert wird.
Anfang des Jahres fanden die Paralympischen Winterspiele in Peking statt, Sie waren mit dem deutschen Team dabei. Wie haben Sie die Spiele erlebt?
Um es mit einem unserer Sportler zu sagen: Das war wie zweieinhalb Wochen Knast mit Freigang. Mit der chinesischen Bevölkerung konnte wegen der Covid-19-Pandemie und der damit verbundenen Einschränkungen keine Begegnung stattfinden. Das kann ich nachvollziehen, aber dennoch war der Bewegungsspielraum übermäßig stark eingeschränkt. Unser Hotelkomplex war abgesperrt. Bei Olympischen und Paralympischen Spielen geht es eigentlich darum, Menschen aus anderen Ländern kennenzulernen, einen Einblick in andere Kulturen zu gewinnen und das völkerverbindende Element des Sports auszuleben. Das war hier auf Sparflamme. Dazu kam im Vorfeld die Drohung, bei negativen Äußerungen über China das chinesische Rechtssystem in Gang zu setzen. Ich war schon zuvor der Meinung: An Länder, die Menschenrechte missachten, sollten keine sportlichen Wettkämpfe vergeben werden – egal, ob es um Olympia und Paralympics in China geht oder um die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar. Diese Erfahrung hat mich darin bestärkt (zum Autoritarismus Chinas siehe Hans Dembowski auf www.dandc.eu).
Das nächste Großereignis sind die Paralympischen Sommerspiele 2024 in Paris. Freuen Sie sich darauf?
Natürlich, das wird hoffentlich ein großes Fest und eine riesige Chance in Sachen Aufmerksamkeit für den Behindertensport! Ich gehe davon aus, dass die Pandemie dann so weit überwunden ist, dass mehr Begegnungen stattfinden können.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten für die Zukunft des Behindertensports, welcher wäre es?
Ich hoffe, dass wir die im Grundgesetz verbriefte Gleichheit und Nichtdiskriminierung von Menschen mit Behinderung umsetzen können, nicht im Schneckentempo, sondern mit riesigen Schritten. Und dass wir den Anspruch auf Teilhabe leben können, der in der UN-Behindertenrechtskonvention formuliert ist – an jedem Tag und an jedem Ort.
Friedhelm Julius Beucher ist seit 2009 Präsident des Deutschen Behindertensportverbands (DBS), der zugleich das Nationale Paralympische Komitee Deutschlands ist.
beucher@dbs-npc.de