OECD
Der Mythos westlicher Entwicklungshilfe
[ Von Kishore Mahbubani ]
Gleich vorweg: Westliche Entwicklungshilfe hat sicherlich auch Positives bewirkt. Es sind enorme Summen investiert worden und selbst wenn nur ein Bruchteil davon wirklich sinnvoll war, ist dies schon einiges. Der Westen kann auf Erfolge verweisen, eine Universität in Lahore (LUMS), eine Brücke in Bhutan, eine Straße in Laos oder Colombo-Plan-Stipendiaten in Singapur. Aber das sind Ausnahmen. Der Löwenanteil wird vergeudet.
Vielleicht ist vergeudet das falsche Wort. Das Geld wurde ja genutzt – allerdings zu Gunsten der Geberländer, nicht der bedürftigen Entwicklungsländer. Ich schätze, dass von zehn Dollar, die angeblich als Entwicklungshilfe in der Dritten Welt ausgegeben werden, acht in das Geberland zurückfließen. Es geht um Verwaltungsaufwand, Beratungsgebühren und Verträge mit Firmen im eigenen Land. Auf den Punkt gebracht: Tatsächlich kommt in den Entwicklungsländern direkt kaum Hilfe an.
Absteigende OECD
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wurde 1961 gegründet, um Länder in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und dem Bemühen um stabiles Wirtschaftswachstum zu unterstützen. Doch objektiv muss man sagen: Die OECD ist an ihrem Auftrag gescheitert. Dennoch zahlt der Westen jedes Jahr 342,9 Millionen Euro, um ein teures Sekretariat in Paris zu unterhalten. Es liefert zwar ausgezeichnete Forschungsarbeiten, verzeichnet in der Kernaufgabe aber kaum Erfolge. Fragwürdiger noch: Die OECD stellt munter Schätzungen der gesamten Öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit (ODA) des Westens zur Verfügung. Die jüngsten Zahlen gehen von rund 104,4 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe der OECD-Staaten aus.
Was die Statistik nicht erfasst, ist, wie viel Geld die Entwicklungsländer tatsächlich bekommen und wie viel wieder an die Geber zurückfließt. Die OECD verfügt über bürokratische und wissenschaftliche Ressourcen, die für solch eine Prüfung ausreichen sollten. Aber sie denkt nicht im Traum daran, das zu tun – die westlichen Geldgeber würden ihr den Hahn zudrehen.
Auch hat niemand im Westen den Mut, eine andere offensichtliche Wahrheit auszusprechen: Wegen des Scheiterns in ihrer Kernaufgabe ist die OECD eine Organisation auf absteigendem Ast. Gäbe es sie nicht mehr, hätte das keine negativen Folgen.
Es ist unmöglich, alle Fehlentwicklungen im Zusammenhang mit westlicher Entwicklungshilfe in einem kurzen Artikel wie diesem aufzuzählen. Einige jedoch verdienen Erwähnung:
- Westliche Entwicklungshilfe geht nicht an die ärmsten oder bedürftigsten Länder. Sie geht an Staaten, welche die Außenpolitik der Geberländer unterstützen. Nehmen wir zum Beispiel die US-Entwicklungshilfe. Laut OECD wenden die USA pro Kopf ihrer Bevölkerung unter den Mitgliedsländern am wenigsten auf. Aber selbst diese relativ geringe Summe geht ausschließlich an ausgewählte Länder wie Israel oder Ägypten – dabei ist Israel ein entwickeltes Land. Es erhielt in den vergangenen Jahren jährlich zwischen 2,5 und 3 Milliarden Dollar von den USA – mehr als Afrika südlich der Sahara insgesamt.
- Westliche Länder zögern nicht, die Hilfe einzustellen, wenn ein Empfängerland ihre außenpolitischen Ziele nicht unterstützt. Viele afrikanische Länder haben aus wohlverstandenem Eigeninteresse das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) unterzeichnet. Als sich aber einige afrikanische Länder weigerten, den Zusatzvertrag über die Freistellung amerikanischer Staatsangehöriger von der ICC-Verfolgung zu unterzeichnen, drohten die USA, ihre ODA zu stoppen. In einigen Fällen machten sie die Drohung wahr. Altruismus spielt in solchen Auseinandersetzungen keine Rolle.
- Ein Großteil der ODA wurde auch durch destruktive Aktionen der Geberländer zunichte gemacht. Nehmen wir das Beispiel der EU. Johan Norberg schrieb 2003: „Laut UNCTAD entzieht EU-Protektionismus den Entwicklungsländern jährlich nahezu 700 Milliarden Dollar Exporteinkommen. Das ist fast das Vierzehnfache von dem, was arme Länder pro Jahr an Entwicklungshilfe erhalten.“ Das Vierzehnfache! Es bleibt viel zu tun, um dieses Missverhältnis auszugleichen.
- 1969 versprachen die OECD-Länder, die ODA auf 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens (BNE) anzuheben. Nur sehr wenige Mitglieder haben das Versprechen gehalten. 2006 betrug die gesamte ODA nur 0,31 Prozent der BNE der Mitgliedsstaaten (OECD 2007). Die Differenz zwischen 0,31 und 0,7 Prozent betrug etwa 134,7 Milliarden Dollar. Selbst wenn davon nur 20 Prozent wirklich in armen Ländern ankämen, wären das immer noch 26,9 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Die gesamte Wirtschaftsleistung der wenigsten entwickelten Länder (LDCs) betrug 2006 laut UN rund 148 Milliarden Dollar. Glaubt wirklich irgendjemand, dass das widerholte Versprechen des Westens, die 0,7 Prozent-Marke 2015 zu erfüllen, Menschen in Entwicklungsländern beeindruckt?
- Selbst wenn multilaterale Institutionen Hilfe leisten, kommen solche Mißstände vor. Die Geberregierungen kontrollieren deren Arbeit und stellen sicher, dass multilaterale Budgets auch ihnen selbst nutzen. Stipendien, die Australien über die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) vergibt, müssen meist an australischen Universitäten genutzt werden, zumindest aber australische Wissenschaftler involvieren. Die Stipendien sind sicherlich nützlich. Aber wenn jemand aus Papua-Neuguinea einen passenderen Studiengang in einem Entwicklungsland findet, kann er derlei nicht verwenden.
Geberempfindlichkeit
Die multilateralen Institutionen wissen, dass sie dafür büßen müssen, wenn sie Geberwünsche ignorieren. Skandinavien gilt als freigiebig, was Entwicklungshilfe angeht; 2006 erfüllten drei von vier skandinavischen Ländern das 0,7-Prozent-Versprechen. Dennoch sind sie nicht davor gefeit, Druck auszuüben.
1999 entschied der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan, den neuen Administrator des UNDP nach Leistung auszuwählen, anstatt, wie sonst üblich, den EU-Kandidaten zu berufen. Die EU hatte den damaligen dänischen Entwicklungsminister Poul Nielsen vorgeschlagen, aber Annan entschied sich für den besser qualifizierten Briten Mark Malloch Brown. Die dänische Regierung rächte sich, indem sie ihre Zahlungen an das UNDP um 23 Prozent kürzte. Wie viele bedürftige Afrikaner oder Asiaten darunter leiden mussten, dass der dänische Nationalstolz verletzt worden war, wird man nie erfahren.
Die eigentliche Tragödie ist aber, dass der Westen seine angeblich gemeinnützigen Ziele in den Entwicklungsländern tatsächlich hätte erreichen können – wenn er sich darauf konzentriert hätte, den Empfängerländern zu helfen, statt den Großteil der ODA für eigene Interessen zu nutzen. Er hätte das mit einem Bruchteil der Mittel tun können, die angeblich in die Dritte Welt flossen.
Das Geheimnis des asiatischen Wirtschaftswunders ist, dass die erfolgreichen Länder selbst Verantwortung für ihre Entwicklung übernommen haben. Sie nutzten die ODA dazu, nötige Fähigkeiten zu entwickeln. Sie haben sich nicht Gebervorstellungen gebeugt.
Singapur ist vermutlich der größte Erfolg des UNDP. Zwei UNDP-Berater spielten in Singapur eine große Rolle: der Holländer Albert Winsemius und der Chinese I.F. Tang. Sie stellten gute Beziehungen zum Architekten des Wirtschaftswunders von Singapur, Dr. Goh Keng Swee, her, arbeiteten zusammen – und Singapur boomte.
Deprimierende Wirklichkeit
Im Gegensatz zu den Erfolgen in Singapur zeigen zwei Beispiele, dass Entwicklungshilfe auch völlig schieflaufen kann. 1973/74 arbeitete ich als Charge d’Affairs in der Botschaft von Singapur in Phnom Penh. Die Khmer Rouge bombardierten die krisengeschüttelte kambodschanische Hauptstadt täglich. Das herrschende Lon-Nol-Regime wurde von amerikanischer Entwicklungshilfe am Leben erhalten. Ich war damals 25 Jahre alt. Eine gleichaltrige Diplomatin von der amerikanischen Botschaft gab dem kambodschanischen Wirtschaftsminister täglich Instruktionen, was er zu tun habe.
Sie war ein guter Mensch mit guten Absichten. Aber sie steuerte die kambodschanische Wirtschaft – nicht der Minister. Kein Wunder, dass das Lon-Nol-Regime am Ende zusammenbrach. Keine Hilfe von außen hat Erfolg, wenn sich das betroffene Land für seine Entwicklung nicht zuständig fühlt. Die OECD-Rhetorik berücksichtigt das seit einiger Zeit, aber es ist fraglich, ob westliche Geber das Prinzip „national ownership“ in der Praxis akzeptieren.
Es gibt noch eine ähnliche Schauergeschichte. Vielleicht ist sie sogar schlimmer, weil hier nicht die „Hegemonialmacht“ USA die Hauptrolle spielt, sondern eine angesehene multilaterale Institution, der Internationale Währungsfonds (IWF). Joseph Stiglitz (2002) schildert diesen Fall, in dem es um Äthiopien, eines der ärmsten Länder der Erde, geht.
Führende äthiopische Politiker benannten Entwicklungsziele, wurden dabei aber vom IWF nicht unterstützt. 1997 wurde das Kreditprogramm für Äthiopien ausgesetzt – angeblich, weil sich der Fonds um die Haushaltslage des Landes sorgte. Äthiopien wurde gedrängt, seine Entwicklungsausgaben nur aus Steuereinnahmen zu finanzieren, anstatt sich auf ODA zu stützen, die dem IWF als unzuverlässig galt. Die Zahlen zeigten, dass diese Einschätzung falsch war.
Als Äthiopien einen amerikanischen Bankkredit wegen der hohen Zinsen frühzeitig zurückzahlen wollte, indem es auf Reserven zurückgriff, stieß das Land beim IWF und den USA auf Ablehnung, weil es für diesen ökonomisch vernünftigen Schritt nicht im Voraus die Zustimmung des Fonds eingeholt hatte. Offensichtlich spielten in beiden Fällen weder die Souveränität des Landes noch sein Recht, seine Entwicklung selbst zu bestimmen, eine Rolle.
Ich schließe den Artikel mit diesen Schilderungen, um zu illustrieren, wie pervers das westliche ODA-Projekt mittlerweile ist. Die wahre Tragödie ist, dass viele Menschen im Westen den Entwicklungsländern wohlgesinnt sind und dass mit den für ODA aufgewandten Steuermitteln viel hätte erreicht werden können. Kaum jemand weiß, dass nur ein winziger Teil die Dritte Welt je erreicht hat oder tatsächlich dazu genutzt wurde, Entwicklungsländern zu helfen. Die Menschen in der westlichen Welt haben ein Recht darauf zu erfahren, was mit ihrem Geld tatsächlich geschehen ist. Es ist Zeit für die Wahrheit.