Stadtentwicklung

Ganzheitliches Handeln nötig

Die Stadtbevölkerung von Freetown ist schnell und unkontrolliert gewachsen. Nach verheerenden Überschwemmungen im Jahr 2017 kann ein Zusammenhang zwischen Naturkatastrophen und Stadtplanung nicht mehr ignoriert werden.
Nach drei Tage andauernden heftigen Regenfällen brach im August 2017 ein Hang im Westen Freetowns zusammen und löste einen zerstörerischen Erdrutsch aus. Williams-Gerdes Nach drei Tage andauernden heftigen Regenfällen brach im August 2017 ein Hang im Westen Freetowns zusammen und löste einen zerstörerischen Erdrutsch aus.

Sierra Leone hatte in seiner Entwicklung einige Hindernisse zu bewältigen. Während ein langer Bürgerkrieg und der zwei Jahre dauernde Kampf gegen Ebola alle Ressourcen aufbrauchten, hofften viele Menschen auf ein besseres Leben in der Hauptstadt Freetown. Häuser und ganze Viertel wurden eigenhändig auf Grundstücken errichtet, wo bis dahin unberührter Wald gestanden hatte.

Dann kam es am 14. August 2017 im Westen von Freetown nach tagelangen Regenfällen und Überschwemmungen zu einem massiven Erdrutsch. Menschen und Häuser wurden unter Schlamm und Trümmern begraben, mehr als tausend Menschen für tot oder vermisst erklärt. Die Weltbank schätzt, dass weitere Tausende geflohen sind – viele mit nicht mehr als dem, was sie am Leib trugen.

In Sierra Leone sind Überschwemmungen und Erdrutsche nicht ungewöhnlich, doch eine humanitäre Katastrophe von derartigem Ausmaß erregte weltweit Aufmerksamkeit. Viele internationale Organisationen wie Action Against Hunger, CARE International, das Rote Kreuz und diverse UN-Organisationen, die bereits im Land waren, boten unmittelbare Grundversorgung und Hilfe. Sie sorgten für Lebensmittel, Unterkünfte und Mobiltelefone und berieten die Menschen.

Bei dieser Katastrophe ging es um weit mehr als um Verlust von Besitz. Es zeigte sich ein komplexes System von einander verstärkenden Ursachen und Wirkungen, von denen sich einige lange vor dem Erdrutsch angebahnt hatten. Dies erfordert ganzheitliches und langfristiges Handeln für die Zukunft.

Die Regierung von Sierra Leone hat eine nationale Sanierungsstrategie in Auftrag gegeben und betont, dass ein Ansatz erforderlich ist, der nicht nur bestehende Probleme löst, sondern auch künftige Herausforderungen angeht. Innerhalb kürzester Zeit fanden sich Experten des UN-Entwicklungsprogramms (United Nations Development Programme - UNDP) und der Weltbank in Freetown ein, um dieses Bemühen zu unterstützen.

Ein Erdrutsch an sich ist keine Katastrophe. „Erdrutsche sind ein Naturphänomen“, sagt der Experte Muhibuddin Usamah. Zur Katastrophe werden sie erst, wenn Menschen dort leben, wo sie geschehen.

Die Häuser Freetowns liegen an steilen Hängen auf verwitterten, erosionsgefährdeten Felsen. Als die Stadtbevölkerung wuchs, wurde der Wald gerodet und der Boden abgetragen, um Ebenen zu schaffen, auf denen sich informelle Siedlungen bildeten. Die natürliche Befestigung wie Pflanzen und Wurzeln wurden entfernt, so dass die Häuser seither gefährdet sind. Zugleich führt übermäßiger Holzkohleverbrauch zu weiterer Abholzung und verstärkter Erosion.

Erdrutsch-Experte Usamah meint: „Viele haben sich bewusst dafür entschieden, in geografisch anfälligen Gebieten zu leben. Für ihren täglichen Bedarf wollten sie Wasser, Feuerholz, soziale Dienstleistungen und Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe haben. Sie hielten das für eine gute Entscheidung und ließen sich durch nichts davon abhalten.“

Usamah arbeitete eng mit der nationalen Umweltschutzbehörde (EPA) zusammen. Die Ursachen des Erdrutschs sind die Basis für eine „risikobewusste Planung“, wie er es nennt. Evidenzbasierte Gesetze und Richtlinien können für Entscheidungsträger der Kommunen und Gemeinden hilfreich sein und für eine sichere Lebensweise sorgen.


Verhaltensänderung

Inzwischen haben Gemeinden viele Möglichkeiten, Gesundheitsrisiken und Gefahren zu mindern und den allgemeinen Lebensstandard zu verbessern. Kommunale und nationale Behörden erkennen nun, dass die Überschwemmungen in Freetown aus starkem Dauerregen kombiniert mit unzureichenden Entwässerungssystemen resultieren. Dem Experten für Abfallmanagement Thorsten Kallnischkies zufolge sind Abflüsse zwischen den Häusern oft verstopft – mit Erde und Steinen, aber auch mit Müll. Die Abläufe können keinen starken Regen auffangen, daher sammelt sich das Wasser, bis der Druck so stark ist, dass es ganze Felsen in Bewegung setzt. „Stellen Sie sich einen Stein in der Größe eines Toyota Landcruiser vor, der mit zehn Stundenkilometern auf Häuser und Menschen zurollt“, veranschaulicht Kallnischkies.

Die Fluten spülten 2017 auch Fäkalien und andere Abfälle in Flüsse, Bäche und Brunnen. Die Leute tranken und badeten buchstäblich in verseuchtem Wasser. „Selbst ein moderater Regen kann Müll in offene Wasserstellen spülen“, erklärt Kallnischkies.

Somit können einfache Dinge wie „aufräumen“ schon eine Menge bewirken und das Überschwemmungsrisiko reduzieren und zugleich mögliche Folgen verhindern. Um das zu erreichen, half Kallnischkies ein vom UNDP finanziertes Projekt zu entwickeln, das betroffene Gemeinden an den Wiederaufbauprozessen beteiligt. Zu den ersten Aufgaben gehörte es, Steine und Abfälle aus Flüssen und Bächen zu sammeln, beschädigte Abflüsse zu reparieren und Trinkwasserbrunnen mit Zementmauern zu versehen.

Projektkoordinator Getaneh Gebre ging es nicht allein darum, Leute zu schulen. „Wir wollten, dass sich die Teilnehmer als Teil eines größeren Ganzen begreifen. Dass sie natürliche Ursachen und Wirkungen und die Folgen menschlichen Handelns für die Umwelt begreifen und dass sie dieses Wissen nutzen, um Positives zu bewirken.“

Dieser ganzheitliche Ansatz kam an verschiedenen Stellen zum Tragen - etwa indem schräge Hänge zu Terrassen umgewandelt werden, um Wurzelgemüse anzubauen. So wird Hangerosion gemindert und der Boden gefestigt – zudem erhalten die Gemeinden Lebensmittel und Einkommen. Der Haushaltskompost versorgt die Kulturpflanzen mit Nährstoffen und er absorbiert Feuchtigkeit, so dass weniger Wasser in Flüsse und Bäche fließt.

Die engagiertesten Teilnehmer wurden zu Führungskräften und Ausbildern weiterer Arbeitsgruppen ausgebildet, um sicherzustellen, dass auch nach Abschluss des Projekts Informationen und Kompetenzen systematisch weitergegeben werden und Verhaltensweisen erlernt werden, die Leben retten können.


Urbane Infrastruktur

Die Überschwemmungen haben Aufsehen erregt, das langfristige Problem aber ist die Bewältigung wachsender Abfallmengen. Die 1,5 Millionen Einwohner Freetowns produzieren durchschnittlich ein halbes Kilo Hausmüll pro Kopf und Tag – zusammen etwa 1,1 Kubikmeter jährlich. Davon werden 20 Prozent gesammelt, die übrigen 80 Prozent landen meist im Abwasserkanal, direkt im Meer oder werden verbrannt.

Die beiden riesigen, überquellenden innerstädtischen Deponien sind eine Brutstätte für Fliegen, Ratten und Moskitos. Giftiges Sickerwasser verseucht Grundwasser, Oberflächenwasser und das Meerwasser an den Küsten. Laut Aussage des Stadtrats von Freetown hängen von den zehn in Krankenhäusern in Freetown am häufigsten behandelten Krankheiten sieben direkt oder indirekt mit der Verschmutzung zusammen. Cholera-Ausbrüche treffen meist jene, die in unmittelbarer Nähe des Mülls leben. Die offene Müllverbrennung ist laut Kallnischkies so gefährlich wie das fortwährende Einatmen von Zigarettenrauch.

Dem Experten für Abfallmanagement zufolge ist der in Freetown erzeugte Müll zu schätzungsweise 80 bis 90 Prozent weitgehend kompostier- und wiederverwertbar. Somit könnte durch relativ einfache Maßnahmen, wie durch Kompostieren in Gemeinden, ein Großteil des Siedlungsabfalls verwertet werden.

Formales Recycling gibt es noch nicht lange. UNDP hat ein Projekt initiiert, bei dem einige Gemeinden aus Plastikmüll Hand- und Computertaschen, Hüte und sogar Bodenfliesen herstellen. Das reduziert den Müll und bringt zugleich etwas Geld in die Kassen.

Allerdings sind lokale Initiativen mit geringem Budget eingeschränkt. Die Müllberge in Freetown sind Ausdruck einer jahrzehntelangen Untätigkeit. Es geht nicht allein um die öffentliche Gesundheit, sondern um nationale Sicherheit und das muss erkannt werden. Eine kleine Lösung gibt es nicht.

Sierra Leone braucht eine nationale Infrastruktur für die Abfallbewirtschaftung: ein reguliertes System mit Personal, Fahrzeugen und einer Aufsicht. Die Stadt muss sich auch um die bereits existierenden Müllberge kümmern. Die Müllhalden müssen geschlossen und neue Lagerstätten gefunden werden. Die Kosten von mehreren zehn Millionen Dollar sind für viele Geber nicht bezahlbar.

„Es kann aber nicht nur an einer Stelle ausgebessert werden,“ mahnt Kallnischkies. „Versucht man nur ein Problem zu lösen, wird das angesichts der übrigen Probleme scheitern.“ Das wird nirgendwo deutlicher als bei der Flutkatastrophe von 2017: Das Engagement danach war überwältigend und die Initiativen großartig. Aber die langfristigen Probleme blieben ungelöst.


Carolyn Williams-Gerdes lebt als Autorin und Fotografin in Berlin. Sie arbeitet öfter für die UN und war Mitglied des Notfallteams nach dem Erdrutsch von 2017. Dieser Artikel drückt die persönliche Meinung der Autorin aus, die nicht mit den Ansichten von UN, UNDP oder UN-Mitgliedstaaten übereinstimmen muss.
carolyn.williams.gerdes@gmail.com