Makroökonomie

Rückbesinnung auf Bretton-Woods-Konferenz 1944

Der internationale Währungsfonds (IWF) befürwortet massive Staatsverschuldung im Kampf gegen Covid-19 und Klimakrise. Er legt dabei großen Wert auf internationale Kooperation. Mit dieser Position ist der IWF nicht allein.
Weltweit steigen die Gesundheitskosten: Provisorisches Covid-19-Krankenhaus in einer Messehalle in Mexiko-Stadt. El Universal/picture-alliance/ZUMAPRESS.com Weltweit steigen die Gesundheitskosten: Provisorisches Covid-19-Krankenhaus in einer Messehalle in Mexiko-Stadt.

Die Coronavirus-Pandemie markiert einen Wendepunkt in der internationalen Wirtschaftspolitik. „Wir erleben einen neuen Bretton-Woods-Moment“, sagt Kristalina Georgieva, die Direktorin des IWF.

In der US-Kleinstadt Bretton Woods konzipierte eine internationale Konferenz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine neue Weltwirtschaftsordnung und gründete den IWF und die Weltbank (die „Bretton-Woods-Institutionen“). In vielfacher Hinsicht steht die internationale Gemeinschaft nun vor ähnlichen Aufgaben. Sie muss das Virus bekämpfen, die Wirtschaftskrise lindern und Grundlagen für eine bessere Zukunft schaffen.

Aus Georgievas Sicht muss jetzt mehr Geld ausgegeben werden, statt Staatsausgaben zu reduzieren. Es gelte, in Menschen zu investieren und Verwundbare zu schützen. Regierungen müssten sich der Verantwortung stellen, indem sie Gesundheitsausgaben steigern und zugleich Unternehmen sowie bedürftige Personen unterstützen. Georgieva hält auch aktive Klimapolitik für unverzichtbar und nennt sie „makro-relevant“, denn die Folgen der globalen Erwärmung bedrohten Wachstum und Wohlstand.

Wie 1944 in Bretton Woods hält sie internationale Zusammenarbeit jetzt für geboten. Die Überschrift ihrer Willkommensrede bei der im Oktober digital veranstalteten Jahrestagung von IWF und Weltbank war: „Eine Schwestern-und-Bruderschaft der Menschheit.“ Das war eine Anspielung auf ein berühmtes Zitat des britischen Ökonomen John Maynard Keynes, der die Bretton-Woods-Konferenz intellektuell inspirierte (siehe Box), obgleich der US-Delegierte Harry Dexter White, ein autodidaktischer Technokrat, den größten Einfluss ausübte. Er nutzte Washingtons Macht, um die institutionelle Architektur zu bestimmen.

Es fällt auf, dass Weltbankpräsident David Malpass Georgieva nicht widerspricht. Vielmehr benennt er als vordringliche Themen „Armutsbekämpfung, Reduktion von Ungleichheit, Bildung, Schuldenerlass, Klimawandel und wirtschaftliche Anpassungsfähigkeit“. All das sei für einen „stabilen Aufschwung“ unabdingbar. Malpass wurde auf Vorschlag von US-Präsident Donald Trump berufen, aber seine Äußerungen zeigen, dass es um die globale Zusammenarbeit derzeit besser bestellt ist, als rechtspopulistische Rhetorik vermuten ließe. Die Lage ist vielleicht auch besser als 1944.

Tatsächlich ist Covid-19 weltweit eine riesige Belastungsprobe. Regierungen haben große Finanzpakete geschnürt, um das Gesundheitswesen, die soziale Sicherung und die Konjunktur zu stützen. Die Strategien ähneln sich so sehr, dass die Politik de facto koordiniert ist. Weltweit belaufen sich die zusätzlichen Staatsausgaben derzeit auf 12 Billionen Dollar. Die EU hat sich sogar entgegen ihrer bisherigen Praxis zur gemeinsamen Schuldenaufnahme durchgerungen, um so wirtschaftlich schwächeren Mitgliedern entschlossenes Handeln zu ermöglichen.
 

Die Perspektive von Zentralbanken

Mit sehr niedrigen Zinsen (sogar null oder negativ) und umfangreichen Anleihekäufen erleichtern Zentralbanken derzeit Regierungen die Schuldenaufnahme. Wegen der Pandemie haben sowohl die US Federal Reserve (Fed) und die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Geldpolitik abermals gelockert. Fed-Chef Jerome Powell sagt, Vollbeschäftigung habe nun die höchste Priorität. Die Fed werde, wenn nötig, auch zeitweilige Überschreitungen ihres Inflationsziels von zwei Prozent tolerieren.

Derweil plagen auch Klimasorgen die Notenbanken. Aus Sicht des Central Banks and Supervisors Network for Greening the Financial System (NGFS) unterminieren die Auswirkungen der globalen Erwärmung die makroökonomische Stabilität. Dem 2017 geschaffenen Netzwerk gehören mittlerweile 72 Institutionen an. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich hat sich in einer technokratischen Studie ähnlich geäußert (siehe Hans Dembowski im Monitor von E+Z/D+C e-Paper 2020/03). Auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat klar Position bezogen: Dieses „größte Risiko des 21 Jahrhunderts“ müsse von allen Parteien schnell angegangen werden, denn sonst sei es „zu spät“.

Aus IWF-Sicht müssen die Defizite in Staatshaushalten noch eine Weile wachsen. Überhastete Versuche, Volkswirtschaften zu öffnen und Staatsschulden abzubauen, würden mehr Probleme schaffen als lösen. Weltbank-Chefvolkswirtin Carmen Reinhart sagt zudem, Regierungen fortgeschrittener Länder müssen sich angesichts niedriger Zinsen jetzt keine Sorgen über die Rückzahlung der Schulden machen.

Spitzenpolitiker in Schwellen- und Entwicklungsländern haben es schwerer. Ihr finanzpolitischer Spielraum ist kleiner, und sie brauchen obendrein Darlehen aus dem Ausland. Positiv ist aber, dass das Coronavirus keine Kreditklemme ausgelöst hat. Die Kapitalmärkte funktionieren reibungslos, und es hilft auch, dass weltweit ähnlich expansive Wirtschaftspolitik vorherrscht.


Solvenzsorgen

Bislang gibt es keine Liquiditätskrise, aber Staatsinsolvenzen drohen durchaus. Eine wachsende Zahl von Schwellen- und Entwicklungsländern ist zunehmend überschuldet. Den Prognosemodellen des IWF zufolge hat sich das Staatspleitenrisiko in den vergangenen zwei Jahren von einer elfprozentigen Wahrscheinlichkeit auf 24 % mehr als verdoppelt.

Das Szenario ist komplex und nicht völlig transparent. Niemand hat einen Überblick über alle bestehenden Zahlungsverpflichtungen. Zu den relevanten Geldgebern gehören multilaterale Institutionen, bilaterale Einrichtungen von etablierten Wirtschaftsmächten und Schwellenländern sowie private Firmen. China ist als mittlerweile größter bilateraler Geldgeber besonders wichtig geworden.

Die Staatenlenker brauchen mehr Finanzmittel, aber voraussichtlich werden die Geldgeber vorsichtiger. Weltbankpräsident Malpass hat bereits seinen Unmut darüber geäußert, dass private Geldgeber sich bislang bei dem Schuldendienstmoratorium weitestgehend zurückhalten. Ihm zufolge müssen sie Regierungen, die knapp bei Kasse sind, zu wirkungsvoller Covid-19-Politik befähigen.

Beunruhigenderweise hat die internationale Gemeinschaft auch kein Verfahren für Staatsinsolvenzen. Wenn im Krisenfall faire und effektive Lösungen gefunden werden sollen, müssen alle betroffenen Parteien in die Verhandlungen einbezogen sein – einschließlich der Privatfirmen und China.

Laut IWF-Chefin Georgieva kann Kooperation bei Umschuldungen nötig werden. Allerdings ist die Lage in gewisser Weise besser als früher, denn seit zwei Jahrzehnten nutzt und propagiert der IWF sogenannte „collective action clauses“ (CACs) im Kontext von Staatsanleihen. Diese Klauseln verpflichten Anleihekäufer, im Falle der Staatspleite an Umschuldungsverhandlungen teilzunehmen. Sie können also weder gegen die Mehrheit der anderen Anleger solch ein Verfahren blockieren noch Distanz halten und auf voller Rückzahlung in ihrem individuellen Fall bestehen.

CACs haben die Finanzierungskosten vieler Staaten gesenkt. Sie funktionieren, wie jüngst Umstrukturierungsverhandlungen für Ecuador und Argentinien gezeigt haben.

Bretton-Woods-Sehnsucht ist übrigens nichts Neues. Ihr entsprach nach der Pleite von Lehman Brothers 2008 die Gründung der G20, um auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs Wirtschaftspolitik zu besprechen. Koordiniertes Handeln verhinderte, dass die damalige Finanzkrise zu einer weltweiten Depression wurde.

Unsicherheit prägt unsere Welt. IWF und Weltbank weisen zwar in die richtige Richtung, aber viele Details sind noch zu klären. Viel kann noch schieflaufen. Die Spitzenpolitiker der Welt müssen sich ihrer Verantwortung stellen.

Keynes’ Schlussworte in Bretton Woods wurden berühmt. Die Konferenzteilnehmer hätten sich den Aufgaben von „Ökonomen, Finanziers, Journalisten, Propagandisten, Juristen, Staatsmännern – und ich denke, sogar Propheten und Wahrsagern“ gestellt, sagte er. Diesmal wären obendrein Ärzte zu nennen.


José Siaba Serrate ist Ökonom an der Universität von Buenos Aires sowie der dortigen privaten makroökonomischen Hochschule UCEMA. Er gehört dem argentinischen Rat für internationale Beziehungen CARI an.
josesiaba@hotmail.com