Afghanistan
Meine Flucht aus Afghanistan nach Deutschland
Meine Heimatstadt Herat war früher bekannt für ihre großartige Kultur und ihr modernes Leben. Doch als die Taliban im August 2021 vor ihren Toren standen, verwandelte sie sich in eine Geisterstadt. Herat liegt im Westen Afghanistans und ist mit mehr als 600 000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes. Sie ist auch Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Im August war sie im Kriegszustand.
Amir Ismail Khan, ein ehemaliger Mujaheddin-Anführer, wollte sich in Herat an der Seite des afghanischen Militärs den anrückenden Taliban entgegenstellen, die bereits weite Teile des Landes erobert hatten. Ein schwerer Konflikt hing drohend über der Stadt. Viele, die sich vor den Taliban fürchteten, versuchten zu fliehen und ins Ausland zu entkommen: Geschäftsleute, Mitglieder zivilgesellschaftlicher Organisationen, Journalisten, Beamte und ganz normale Bürger. Sogar das Militär evakuierte sich selbst und Angehörige. Alles, was in Herat blühte und mir Lebensfreude brachte, verwelkte in diesem Sommer.
Natürlich fürchtete auch ich als Journalist um meine Zukunft und um die meiner Familie, meiner Freunde und Bekannten. Am meisten sorgte ich mich um eine befreundete Journalistin – wegen der offen anti-feministischen Ideologie der Taliban. Trotz meiner Sorge versuchte ich aber zunächst, standhaft zu bleiben und Herat in dieser historischen Situation nicht zu verlassen. Ich trug außerdem Verantwortung für einen ausländischen Journalisten, dem ich mit meiner Ortskenntnis half. Also blieb ich dort, obwohl mich Freunde und Familie baten, zu fliehen.
Es waren die schwersten Tage meines Lebens. Die Angriffe der Taliban bekam ich hautnah mit, weil ich von der Front berichtete. Am 12. August schließlich fiel Herat an die Taliban. Alle hochrangigen Beamte ergaben sich, auch Amir Ismail Khan. Das Militär übergab seine Ausrüstung, darunter schwere Waffen, an Motorradfahrer mit langen Haaren und Sandalen. Alle Hoffnungen und Wünsche der Bewohner Herats zerfielen damit vor ihren Augen zu Staub. In Herat war ich aufgewachsen, ich verband mit dieser Stadt sowohl wunderschöne als auch sehr bittere Erinnerungen. Jetzt musste ich ihr für immer Lebewohl sagen.
In Kabul regieren die Taliban
Zwei Tage blieb ich noch. Dann entschied ich mich, auch im Interesse meiner Familie und Freunde, gemeinsam mit meiner Frau und meinen Kindern nach Kabul zu fliehen, um Afghanistan zu verlassen. Wir gaben unsere guten Arbeitsstellen auf und nahmen unsere Kinder aus der Schule, um für unbestimmte Zeit an einen unbekannten Ort zu gehen. Wir ließen unsere Heimat und unser bisheriges Leben zurück.
Wir fuhren die ganze Nacht und den nächsten Tag. Unterwegs sahen wir die Auswirkungen des Krieges: die Bombeneinschläge neben der Straße, verbrannte Fahrzeuge und Benzintanks. Als wir schließlich in Kabul ankamen, war die Republik Afghanistan Geschichte. Die Taliban errichteten ihr Emirat.
Das war zu diesem Zeitpunkt absehbar. Die Republik war verstrickt in Korruption und Teile der Regierung trugen autoritäre Züge (siehe Interview mit Paul D. Miller auf www.dandc.eu). Schließlich floh Präsident Ashraf Ghani außer Landes – ein Skandal. Die Taliban eroberten das politische Zentrum Afghanistans kampflos.
In Kabul hatten sich fast alle Männer Bärte wachsen lassen und trugen traditionelle afghanische Kleidung, aus Angst vor den Hardliner-Regeln der Taliban. Frauen und Kinder unter 18 Jahren trugen Schals und lange Kleider, abgesehen von einigen mutigen zivilgesellschaftlichen Aktivistinnen. Sie protestierten und forderten ihre Rechte ein: das Recht auf Bildung für Mädchen, auf Arbeit und andere soziale Rechte. Die Taliban hielten sich zu diesem Zeitpunkt weitgehend zurück, weil sie befürchteten, dass das der Anerkennung ihrer Regierung im Ausland schaden könnte.
Auf den Märkten, auf den Straßen und an den Checkpoints sah man überall bewaffnete Kämpfer mit angsteinflößenden Gesichtern und ungewöhnlich langen Haaren und Bärten. Manche trugen Uniform, andere waren informell gekleidet. Sie kontrollierten die Fahrzeuge der verängstigten Bewohner und wirkten auf mich, als sähen sie überall Feinde. Sie beobachteten scharf die individuell gekleideten jungen Männer in Jeans und mit modernen Frisuren, auch Frauen und Mädchen, die enge Kleidung trugen und deren Haare unter dem Schal zu sehen waren.
Die 30 Tage, die ich unter der Herrschaft des Emirats der Taliban verbrachte, fühlten sich für mich an wie 30 Jahre. Während dieser Zeit bestand die einzige Hoffnung für mich und meine Familie darin, dieser Situation zu entkommen. Meine befreundeten Journalisten im Ausland meldeten sich immer wieder bei mir und unterstützten mich, vor allem die großartigen Kollegen der Deutsche Welle Akademie. Sie und auch meine Freunde in Kabul sprachen mir Mut zu und hielten in mir die Hoffnung am Leben, während mich die bedrückende Atmosphäre in meiner Umgebung verzweifeln ließ.
Ausreise nach Islamabad
Dann endlich war der Tag gekommen, an dem meine Familie und ich einen Flug von Kabul in die pakistanische Hauptstadt Islamabad nehmen konnten. Unsere Reisekosten zahlte eine Hilfsorganisation. Andere traf es viel härter: Wer aus gesundheitlichen Gründen oder wegen anderer Notfälle ausreisen musste, zahlte allein für die Hinreise nach Islamabad mehr als 1200 Dollar. Tickets gab es nur auf dem Schwarzmarkt, die Airlines waren auf Monate ausgebucht. Für die Ausreise nach Pakistan auf dem Landweg waren aufgrund einer neuen Regelung nun Passierscheine nötig, die zwischen 400 und 1000 Dollar pro Person kosteten – zusätzlich zu den Visa, die man ebenfalls auf dem Schwarzmarkt bekam.
Am Flughafen von Islamabad wurden wir herzlich von den Kollegen der Deutschen Welle begrüßt. Erst jetzt, in der für uns reservierten Unterkunft, löste sich unsere Anspannung weitgehend und wir fühlten uns sicher. Nachdem uns das freundliche Personal in der deutschen Botschaft in Islamabad unsere Visa ausgestellt hatte, flogen wir zunächst von Islamabad nach Leipzig und reisten von dort über Viersen in Nordrhein-Westfalen nach Köln. Ich werde niemals die Begeisterung meiner Kinder während der Reise vergessen, und auch nicht den freundlichen Empfang meiner Journalisten-Kollegen der Deutsche Welle Akademie. Diese Momente zählen zu meinen schönsten Erinnerungen überhaupt.
Die Entscheidung, meine Heimat zu verlassen, war alles andere als leicht. Was mich letztlich nach Deutschland geführt hat, war der Traum von einem besseren Leben für meine Kinder, ohne Gewalt und Extremismus. Obwohl wir erst seit einigen Wochen hier in Deutschland sind und gerade erst unser neues Leben beginnen, bin ich sicher, dass sie hier glücklich aufwachsen werden. Ich habe hier sehr viel Mitgefühl und Großherzigkeit erfahren – um es in einem Wort zu sagen: Humanität. Gleichzeitig bin ich mir dessen bewusst, dass viele andere unser Glück nicht teilen und immer noch in Afghanistan feststecken.
Hamed Sarfarazi ist ein afghanischer Journalist, der in Deutschland lebt. Er arbeitet für die Deutsche Welle Akademie.
hamedsarferazi@yahoo.com