Entwicklung und
Zusammenarbeit

Elasticsearch Mini

Elasticsearch Mini

Kultur-Spezial

Ein Mann flieht

Der animierte Dokumentarfilm „Flee“ widmet sich dem Leben eines aus Afghanistan geflohenen Mannes. Es ist eine wahre Geschichte. Im Mittelpunkt steht die Frage: Wann endet Flucht? Dieser Beitrag ist der siebte unseres diesjährigen Kultur-Spezialprogramms mit Rezensionen künstlerischer Werke mit entwicklungspolitischer Relevanz.
„Flee“ ist ein animierter Dokumentarfilm. www.fleemovie.com „Flee“ ist ein animierter Dokumentarfilm.

Flucht endet nicht mit der Ankunft in einem anderen Land. Diese Antwort gibt „Flee“ schon mit seinem Titel. Denn das Verb steht im Präsens, nicht im Präteritum. Amin Nawabis (Name geändert) Lebensgeschichte zeigt, wie eine Flucht im Kindesalter einen Erwachsenen weiter begleitet. Den Rahmen des überwiegend animierten Films bilden Gespräche zwischen Amin und dem Regisseur Jonas Poher Rasmussen. Stück für Stück berichtet der heute 36-jährige Interviewte von seiner Vergangenheit.

Es beginnt mit seiner Kindheit in Afghanistan. Geschätzt 35 Millionen Menschen leben in Afghanistan. Die Taliban haben am 15. August 2021 erneut die Macht übernommen und üben wieder ihre Schreckensherrschaft aus, die bereits in den 1990er-Jahren begann. Das Land ist isoliert. Die humanitäre Lage ist desaströs.

Flucht aus Afghanistan

Amin ist bereits in den 1980er-Jahren mit Mutter und Geschwistern aus Afghanistan geflohen. Zu dieser Zeit erschütterten gewaltvolle Auseinandersetzungen zwischen der kommunistischen Regierung, deren sowjetischen Unterstützern und den von den USA unterstützten Mudschaheddin-Gruppen das Land. Amins Vater war damals schon verhaftet worden und vermutlich tot. Das Ziel der Familie war Schweden, wo der älteste Bruder seit längerem lebte. Sie konnten aber nur nach Moskau einreisen.

Die Mittel für die Reise von dort nach Schweden hatten sie nicht. Es folgte eine trostlose Wartezeit. Die Lebensbedingungen waren hart, Fluchtversuche scheiterten. Schließlich musste die Familie sich trennen. Schlepper brachten sie zu unterschiedlichen Zeiten auf verschiedenen Wegen aus Moskau heraus.

So landete Amin als 16-Jähriger alleine in Dänemark. Um dort bleiben zu dürfen, musste er lügen. Er erzählte, dass seine Familie tot sei. Die Wahrheit erfuhr über Jahrzehnte niemand. Auch nicht der Freund, den er am ersten Schultag in Dänemark traf. Dieser Freund war Jonas Poher Rasmussen.

Die persönliche Beziehung zwischen Dokumentarfilmer und Protagonist verfälscht die Aufarbeitung nicht. Sie verstärkt die Aussage des Films. Erst nach vielen Jahrzehnten Freundschaft war es Amin möglich, sich zu öffnen. Er erzählt dem Freund, nicht dem Filmemacher, von der Flucht, den Ängsten, der Isolation und dem Leidensdruck. Sie sprechen auch über die Zeit in Dänemark: das Erwachsenwerden als Geflüchteter in einem fremden Land, die langersehnte Reise zu seiner Familie nach Schweden und Amins Karriere als Wissenschaftler.

Beziehung auf dem Spiel

Besonders im Fokus ist auch die Beziehung zu Amins Partner. Seine Homosexualität wird im Film thematisiert, aber nicht dramatisiert. Vor allem sehen die Zuschauerinnen und Zuschauer, wie sich Amins Blick auf seine eigene Homosexualität ändert. Viel wichtiger für Amin und damit den Film sind die Herausforderungen, die sich aus seiner Vergangenheit für seine Partnerschaften ergeben. Welche das sind, entdecken die Freunde während des Gesprächs gemeinsam. Deutlich wird, wie sehr die Flucht und die Lüge den inzwischen 36-Jährigen noch immer beschäftigen.

Der Film ist kein politisches Statement zum Afghanistan-Krieg. Er berücksichtigt nicht die aktuellen Ereignisse. Kritisiert wird nur marginal. Die Botschaft von „Flee“ ist eine andere. Jonas Poher Rasmussen hat seinem Freund einen Raum geschaffen, in dem dieser das Vergangene aufarbeiten und vielleicht sogar mit seiner Flucht abschließen kann. Das Ergebnis ist ein Werk, das einen normalen Menschen im Windschatten eines Krieges zeigt. Und seine jahrelange Flucht vor der eigenen Vergangenheit.

Wann endet Flucht?

Die Animationen ermöglichen, die ganze Geschichte zu visualisieren. Sie zeigen, was sonst verborgen geblieben wäre. Aufnahmen von den Regionen zur erzählten Zeit unterbrechen die Animationen gelegentlich. Sie vermitteln deutlich, dass trotz der ästhetisierten Bilder das Erzählte real ist.

Durch das Gespräch zwischen Amin und Jonas wissen die Zuschauerinnen und Zuschauer schon zu Beginn, dass es Amin gut gehen wird. Er ist in Sicherheit in Dänemark. Es ist seine emotionale Entwicklung, die den Spannungsbogen des Films ausmacht. Endet Amins Flucht vor der eignen Vergangenheit mit dem Film? Das ist die Antwort, die in „Flee“ zu suchen ist.


Film
Rasmussen, J. P., 2020: Flee. Dänemark/Frankreich.


Jane Escher ist Volontärin in der Öffentlichkeitsarbeit von Engagement Global.
jane.escher@engagement-global.de